Traumsequenzen (1)

Die Zeitungsfrau

... Das dumpf klatschende Geräusch hatte sie geweckt. Ohne einen Blick auf den Wecker werfen zu müssen, wusste sie die Uhrzeit. Es war noch stockdunkel und wie an jedem Mittwochmorgen hatte der Verteiler zwei Packen Zeitungen unter dem Überdach ihrer Haustür abgeworfen. Zeitungen, die sie nachher in ihrem Bereich zu verteilen hatte.

Sie wäre lieber noch etwas liegen geblieben, aber das ging nicht. Als Paul noch bei ihr wohnte, hatte sie es nicht nötig, Zeitungen auszutragen. Sie hatten ihr Geld zusammengelegt und waren gut damit durch den Monat gekommen. Auch zum Ausgehen an Wochenenden und für Urlaube hatte es immer gereicht. Seit er sie verlassen hatte, war sie auf jeden zusätzlichen Euro angewiesen.
Sie stand auf, bewegte sich träge und gähnend ins Badezimmer, blickte missmutig in den Spiegel, putzte ihre Zähne und kämmte lustlos durch ihr kurzes Haar. Duschen und sich ordentlich zurechtmachen würde sie sich erst später, wenn sie ihre Tour hinter sich hätte.

Ihr Kaffeepott, den sie aus Bequemlichkeit morgens benutzte, stand schon auf der Anrichte. Sie nahm eins der Kaffeepads aus der Dose, klemmte es in die neue, kleine Senseo-Maschine und füllte frisches Wasser in den Tank. Die große, teure italienische Kaffeemaschine mit allen Finessen hatte er mitgenommen. Es sei seine, hatte er gesagt. Genauso, wie die Modelleisenbahn, die fast das ganze Kinderzimmer mit Schienensträngen, Transformatoren und Kabelgewirr ausgefüllt hatte. Kinder hatten sie nicht. Das heißt, nicht zusammen.
Ein erwachsener Mann mit einer Modelleisenbahn – war das überhaupt ein Mann, dachte sie, während der Kaffee in ihren Pott röchelte.

Sie schlürfte den letzten Rest Kaffee aus, spülte den Pott kurz mit Wasser aus und stellte ihn umgekehrt in die Spüle. Im Flur nahm sie ihre dicke, rote Jacke von der Garderobe und zog sie an. Dann schloss sie die Haustüre auf, schob einen der Zeitungspacken etwas zur Seite und ging zum Schuppen, um ihr Fahrrad zu holen. Mit dem rechten Fuß klappte sie den Ständer nach unten und stellte das Rad hin. Vom ersten Packen trennte sie mit ihrem kleinen Taschenmesser das Band auf, griff gut die Hälfte der Zeitungen und verteilte sie gleichmäßig in die beiden Packtaschen ihres Fahrrads, ging noch mal zum Flur zurück, löschte das Licht und zog die Haustür zu.

Es war immer noch dunkel und ein leichter Nieselregen hatte die Straße mit einem Wasserfilm überzogen, der das Licht der Straßenlaternen als flimmernde Reflexe widerspiegelte. Anfangs schwankte sie noch mit dem bepackten Rad etwas hin und her, aber als sie in die erste Seitenstraße einbog, hatte sie genügend Tempo, fuhr ruhig und wie gewohnt ihre übliche Tour.

Gut die Hälfte ihrer Zeitungen hatte sie schon verteilt – sie nahm immer abwechselnd einen kleinen Packen aus der rechten und linken Tasche, um ihr Rad gleichmäßig zu entlasten – als es schon heller wurde und sie in die kurze Buchenstraße einbog. Am Ende der Straße blinke ein Blaulicht mit einem gelben Warnlicht um die Wette. Männer mit roten Westen standen neben einem Notarztwagen, das Polizeiauto stand quer auf der Straße. Sie fuhr noch etwas näher heran, stellte ihr Rad ab, nahm eine Zeitung und ging auf die Lichter zu. Die Männer standen vor dem Haus 13, dem Haus einer alleinstehenden Krankenschwester, mit der sie sich schon mal unterhalten hatte, die immer Nachtdienst in der Klinik machte, und die auch jeden Mittwoch eine Zeitung bekam.

Die Frau konnte eigentlich nicht zu Hause sein, ihr Nachtdienst war noch nicht um. Auch lag die Klinik im Nebenort und ihr kleines Auto war nirgends zu sehen. Ein Polizist kam aus dem Haus, redete kurz mit einem der Männer in den roten Westen und ging wieder ins Haus zurück. Die Männer stiegen in den Notarztwagen und ließen den Motor an – ihre Hilfe war wohl nicht mehr erforderlich.
Die Haustür stand weit offen, und mit der Zeitung in der Hand betrat sie den Flur, hörte weiter hinten Stimmen. Sie ging noch ein paar Schritte weiter und machte sich mit einem kläglichen „Hallo?“ bemerkbar. Eine nur angelehnte Tür wurde geöffnet und einer der beiden Polizisten, die sich im Zimmer unterhalten hatten, blickte sie erstaunt an.

„Ich bin die Zeitungsfrau“, stammelte sie, „komme jeden Mittwoch um diese Zeit – was ist denn passiert?“

Bevor der Polizist sie in den Flur zurückdrängen konnte, hatte sie einen Blick ins Zimmer werfen können. Der zweite Polizist stand an der gegenüberliegenden Wand, in der Hand ein Kabel, das er wohl gerade aus einer Steckdose gezogen hatte. Auf dem Boden ein Mann, noch im Bademantel, in einer völlig unnatürlich verkrümmten Haltung. Unter sich das wirre Knäuel glänzender Schienen einer Modelleisenbahn.

In der nächsten Woche teilte sie wie gewöhnlich ihre Zeitungen aus. Nachdem sie ihre Tour beendet hatte, stellte sie ihr Rad im Schuppen ab, nahm eine der Zeitungen, die sie übrig gehalten hatte und ging ins Haus. Bevor sie sich einen frischen Kaffee machte, faltete sie die Zeitung auf. Die Fotos der Krankenschwester und eines Mannes fand sie auf der dritten Seite, darunter die Meldung: Unfall oder Mord? Tod durch Modelleisenbahn. Sachverständige ermitteln noch immer die genaue Todesursache. War es ein Unfall oder wurde ein Transformator manipuliert? Es folgte ein längerer Bericht, in dem ausführlich über das Verhältnis der Krankenschwester zu dem Toten und dessen vorzeitiges Ende spekuliert wurde.

Sie las nicht weiter, bereitete ihren Kaffee vor, stellte sich mit verschränkten Armen an die Anrichte. Und während der frische Kaffee mit brodelnden Geräuschen in ihren Pott lief, blickte sie mit versteinertem Gesicht aus dem Fenster.

Autor:

Gottfried (Mac) Lambert aus Goch

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