Wie tief ist der Brunnen?

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Wie tief ist der Brunnen?
Ein Beitrag für die Gruppe der Literaturfreunde und alle Märchenliebhaber.

Diese Frage ist wohl stets die erste Frage gewesen, die von Gästen gestellt wird, die mich in meinem Garten besucht haben. Der moderne, aufgeklärte, um nicht zu sagen abgeklärte und der Natur schon weitgehend entfremdete Mensch, so er schaudernd vor dem dunklen Loch im Boden steht und sich den unbewussten, esoterischen Schwingungen des Wassers, wie auch den aufkommenden Erinnerungen an die Sagen- und Märchenwelt ferner Kindheitstage nicht wirklich zu entziehen vermag, ist dann immer schnell bemüht, diesem Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dem Ungewissen dadurch zu begegnen, indem er nach einem mess- und begreifbaren Wert fragt. Diese Information, eine simple Zahl, schafft es somit, den Brunnen seiner Mystik zu berauben, weil eine Tiefenangabe technisch verifizierbar und für den Fragenden, der letzten Endes trotz seiner Aufgeklärtheit oder unterbewusst insgeheim zweifelt, ob nicht doch etwas an den alten Erzählungen stimmen mag, die Möglichkeit darstellt, sich dem Unbekannten, der Angst machenden Mystik der Brunnen- und Unterwelt zu entziehen. Ein Brunnen wird in Sagen und Märchen sehr häufig als Tor in eine andere Dimension bzw. eine andere Welt beschrieben.
Eine Längenangabe ist demgegenüber sehr real und gut vorstellbar. „Ach, der ist ja gar nicht so tief, wie ich gedacht hatte.“ Der Fragende hat seine Antwort und stellt erleichtert fest, dass der dunkle Schacht doch nicht so grundlos ist und einen festen, messbaren Boden hat. Was unten fest und zu ist, kann ja nicht gleichzeitig ein offenes Tor in eine Anderswelt sein.

Was also tun, wenn wieder mal gefragt wird, wie tief der Brunnen ist?
Die einfachste Möglichkeit wäre, die Frage nicht zu beantworten. Das aber wäre gewiss unhöflich.
Eine weitaus schönere Art, die Mystik dieses und jedes unbekannten Brunnens zu erhalten ist aber, dem Fragenden die folgende Geschichte zu erzählen, die aus meiner Feder stammt, was zu erwähnen, ich jedem bitte auferlegen möchte:

Wie tief ist der Brunnen?

Es war einmal vor Jahren ein armer Hausbesitzer namens Franz, der hatte in dem Garten hinter seinem Haus beim Umgraben unter dicken Holzbohlen einen alten Brunnen gefunden. Wie er die Bohlen anhob und darunter schaute, weil sie so hohl klangen, fand er einen runden, mit grau-weißen Kalkbruchsteinen ausgemauerten Schacht. Franz holte einen Eimer herbei und ließ ihn an einem Seil in den Brunnen hinab. Als er den Eimer wieder nach oben gezogen hatte, enthielt dieser auch tatsächlich gutes, klares Wasser. "Das ist schön," dachte er bei sich, "so kann ich meinen Garten auch im heißesten Sommer ausreichend bewässern". Er ging also hin und richtete den Brunnen wieder so her, wie er vielleicht in frühester Zeit ausgesehen haben mochte. Denn der Brunnen sollte nicht nur Wasser für seine Blumen, seine Obstbäume und seine Beerensträucher spenden, sondern auch eine Zierde in seinem Garten sein. Franz stellte sich dabei den Brunnen wie einen alten Dorfbrunnen vor. Damit kein Licht hinein fiele und das Wasser schlecht würde, dachte er, müsse dieser auch ein ordentliches Dach besitzen. Und damit der schwere Wassereimer leichter wieder hoch gezogen werden könne, solle auch eine gute, leichtgängige Haspel daran sein. Mit diesen Gedanken machte er sich an bald die Arbeit und mauerte mit einiger Mühe den Brunnenring aus den gleichen, an den Feldrändern aufgelesenen Natursteinen wieder auf und zimmerte aus dicken Holzbalken ein neues Dach und eine Haspel für die Eimerkette. Da Franz arm war und alles selbst machte, dauerten die Arbeiten natürlich recht lang, aber er war geschickt in allen Dingen und nachdem anderthalb Jahre vergangen waren, war sein Werk endlich fertig und ein wunderschöner Brunnen stand in seinem Garten.
Da kam sein jüngerer Bruder und fragte, ob er für sich nicht ein paar Äpfel pflücken könne, denn er hatte von Franz gehört, dass die Apfelbäume in diesem Jahr so reich trugen, dass sie unter der schweren Last gestützt werden mussten. Franz sah das als Folge der guten Wasserversorgung aus dem Brunnen, die seinen Bäumen die trockenen Wochen des Sommers erspart und die Äpfel groß und rund hatte werden lassen.

Natürlich besah sich der Bruder zuerst auch den Brunnen und lobte die schönen Schnitzereien am Gebälk, die ihm sehr gefielen. Auch probierte er die Haspel und war verwundert, wie leicht sie sich drehen ließ. "Ja, ich habe die Welle in moderne, gut geschmierte Lager gesetzt, aber man sieht diese nicht. So fällt es leichter, die Last zu heben und der Brunnen erscheint trotzdem alt" erklärte Franz.
"Das ist ja toll. Aber wie tief ist der Brunnen denn eigentlich? Braucht es denn so gute Lager, wenn er nicht gar so tief ist?" fragte sein Bruder. Franz überlegte, aber er wusste es nicht, denn er hatte den Brunnen nie leer gesehen und den Eimer immer nur bis zum Wasser hinab gelassen. So weit das Licht des hellen Tages eben reichte und es feucht genug war, wuchsen kleine, grüne Farne und Moose in den Fugen der Bruchsteine. Der Wasserspiegel lag ein paar Ellen darunter im Dunkeln und war schwarz, wie die Nacht. So versprach Franz seinem Bruder, bevor sich dieser mit einem großen Korb voll knackiger grün-roter Äpfel von ihm verabschiedete, den Brunnen mal bei Gelegenheit auszuloten, denn er hatte gerade keine Leine für das Lot und die Eimerkette hatte er aus Kostengründen auch nicht viel länger gekauft, als der Wasserspiegel tief war.

Ein paar Tage darauf hatte er dann aber auch einen handfesten Grund, die Tiefe des Brunnens auszuloten. Denn Franz war seine Gartenschere in den Brunnen gefallen, die er auf dem Brunnenrand abgelegt und aus Versehen angestoßen hatte. Er hatte noch nachgegriffen, doch es war zu spät und die gute Schere fiel in den dunklen Schacht. "Gerade erst hatte ich sie geschärft. So ein Missgeschick!" ärgerte sich Franz und blickte auf den Schleifstein, der hinter dem Haus stand. Dieser hatte auch eine Handkurbel und diese bewegte eine große, runde Sandsteinscheibe, die war rötlich, weil Eisen darin enthalten war. Da kam Franz eine Idee. Er lief los und kaufte beim Krämer die längste und festeste Drachenleine, die dieser im Angebot hatte, denn es war Erntedank und die Kinder würden schon bald wieder ihre bunten Drachen im Wind steigen lassen. "100 Ellen sind wenigstens darauf. Damit kannst Du einen Drachen so hoch steigen lassen, dass der die Wolken berührt!" versicherte ihm der Händler. Franz ließ ihn in dem Glauben, dass er einen Drachen bauen wolle und band daheim den Anfang der Leine fest um ein großes Hufeisen aus magnetischem Eisen. So hoffte er die metallene Schere schnell wieder aus dem Brunnen zu angeln und ganz nebenbei noch die Tiefe des Brunnens auszuloten. "Da brauche ich nur etwas Glück und keine große Mühe, um meine gute Schere wieder zu bekommen" dachte er zuversichtlich und ließ den Magneten an der Schnur vorsichtig an den grünen Farnen vorbei hinab in den Brunnen, bis dieser lautlos im dunklen Wasser versank und nicht mehr zu sehen war. Sobald der Magnet im Wasser war, wog er naturgemäß etwas weniger, war aber doch schwer genug, um die Leine weiter ordentlich nach unten zu ziehen. So wickelte er Windung um Windung von der roten Spule ab, auf die die Leine gewickelt war und hoffte darauf, dass der Grund des Brunnens nicht so schlammig und weich sei, dass seine Schere darin unerreichbar versunken wäre.
Jedoch, der Grund ließ auf sich warten. Franz hatte schon fast die Hälfte der Spule abgewickelt und der Magnet zog immer noch unverändert Leine nach. Dann endlich ließ der Zug nach und die Leine lag schlaff in seiner Hand. „Du meine Güte!“ dachte er, „Bei solch einer Tiefe wird es aber sehr schwer werden, die Schere mit dem Magneten zu erwischen.“ Trotzdem versuchte er sein Glück und lupfte die Leine einige Male leicht an und führte dabei die Schnur weiter zur Mitte des Brunnens. Zweimal setzte das Eisen weich auf und der Zug ließ jedes Mal nach. Jedoch war der Magnet beim Anheben nicht schwerer geworden. So konnte er wohl auch die versunkene Schere nicht erfasst haben. Doch beim dritten Mal zog der Magnet plötzlich wieder mehr Leine in die Tiefe. „Das kann doch nicht sein!“ rief Franz erschrocken aus. Ging denn der Brunnen noch tiefer? War der Magnet nur auf einem kleinen Randvorsprung zum Liegen gekommen und sank jetzt weiter in die unbekannte schwarze Tiefe? Schaudernd ließ Franz weiter die Leine von der Spule ablaufen. Gleichmäßig zog das Eisen weiter nach unten. Schließlich war das Ende der Leine erreicht, das zum Glück fest mit der Spule verknüpft war, sonst hätte er das Ende womöglich auch noch verloren. Ratlos rührte er mit der Schnur im Brunnen herum, hoffte darauf, dass die Zugkraft der Leine nachließe, dass 100 Ellen Tiefe nur Einbildung wären. Doch immer noch zog die Leine nach unten. "Die schöne Schere kann ich wohl abschreiben", jammerte Franz. Etwas aus noch größerer Tiefe zu bergen, war ein Lotteriespiel, bei dem er nicht gewinnen würde. Eine weitere Schnur anzubinden, hätte gewiss keine Aussicht auf Erfolg gehabt.
Doch just als er sich dazu entschlossen hatte, die Bergungsaktion aufzugeben und die Leine wieder aufspulen wollte, da riss plötzlich etwas mit Gewalt an der Leine. Nur mit viel Glück behielt Franz die Spule noch in der Hand und sprang erschrocken einen großen Schritt rückwärts, weil er Angst bekam, kopfüber in den Brunnen hinein gezogen zu werden. Krampfhaft umklammerte er die Spule und versuchte die Leine wieder einzuholen. Da gab es einen zweiten gewaltigen Ruck und die Leine wurde schlaff. Franz starrte entgeistert auf die rote Spule in seiner Hand, die plötzlich ganz leicht geworden war. Wer oder was hatte da an der Leine gerissen? Gab es da unten vielleicht große weiße Grundwasserfische, die nach seinem Magneten geschnappt und ihn glatt abgebissen und verschlungen hatten? Wie sollte so ein Untier, das in der Lage war, Stahl zu fressen, in einem so engen Brunnenschacht leben können? Oder war der Schacht dort unten in der Tiefe etwa viel weiter?
Vollkommen verwirrt wickelte Franz die Leine wieder auf die Spule und beeilte sich, die Schnur so schnell wie möglich wieder aus dem Wasser zu ziehen, bevor noch mal etwas daran reißen konnte. Es braucht wohl nicht erwähnt zu werden, dass das Ende der Leine den Magneten nicht mehr festhielt und vollkommen zerfasert war. Auch schien die Leine etwas kürzer geworden zu sein.
Aber das wollte Franz nicht mehr nachhalten. Er hat das Endstück der Leine zum Beweis aufbewahrt. Du kannst es Dir gerne anschauen, denn er hat es mir kurz vor seinem Tode geschenkt und Zeit seines Lebens keinen Versuch mehr unternommen, die Tiefe des Brunnens auszuloten. Einerseits aus Angst, dabei mit einem plötzlichen, gewaltigen Ruck in den Brunnen gezogen zu werden und jämmerlich darin zu ersaufen, andererseits aus Furcht, mit seinem Lot in eine bodenlose Tiefe vorzudringen, die vielleicht gar nicht nur zwei Ellen im Durchmesser misst und dabei wen oder was auch immer dort in seiner dunklen Welt zu stören; diesen Wesen mit der Leine womöglich gar einen Weg zur Oberfläche zu weisen, den sie vorher gar nicht fanden?

Ein Märchen? Oder die Wahrheit? So wie Franz, möchte auch ich keine Brunnenwesen in meinem Garten wissen, die Eisen fressen können. Ich sitze gern hier oben in der hellen Sonne, schaue auf meinen schönen, unergründlich tiefen Brunnen und freue mich, wenn die Dinge so bleiben, wie sie waren und gehören.

Anlage: Ein zerfasertes Stückchen Drachenschnur

© Ishana Kumbruch 08-2011 und 01-2014

Autor:

Ishana Kumbruch aus Hagen

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