11.September 2023: Tag der Wohnungslosen
Wachsende Wohnungsnot: Höchster Anstieg der Wohnungslosigkeit um 62%

Foto: Podcast von Dr. Klein

KREIS RECKLINGHAUSEN. Der 11. September wird alljährlich als „Tag der Wohnunglosen“ bundesweit begangen, um auf die dramatisch wachsende Wohnungsnot im Land aufmerksam zu machen. In über 40 deutschen Städten fanden dazu Aktionen statt, so auch in Recklinghausen. Im Kreis Recklinghausen sind 1.650 Menschen wohnungslos, das sind 27 Betroffene je 10.000 Einwohner. In NRW waren 2022 über 78.000 Menschen wohnungslos, das ist mit +62,3% der höchste Anstieg binnen eines Jahres, wobei die Dunkelziffer deutlich höher ausfallen dürfte. Bundesweit sind eine halbe Million Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen. Wenn trotz 45 Jahren Arbeit 40% der Rentnerinnen und Rentner die Altersarmut droht bei weiterhin fehlenden Sozialwohnungen, dann droht ihnen zugleich das erhöhte Risiko der Wohnungslosigkeit.

Die Bundesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, mittels eines nationalen Aktionsplanes die Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit bis 2023 zu beenden, wie von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gefordert. Doch manche Kommunen wie z.B. die Stadt Haltern im Kreis Recklinghausen verweigern sich bislang der erforderlichen Wiederaufnahme des Sozialen Wohnungs(neu)baus mit dauerhaften oder langfristigen Belegungsbindungen als auch der Nutzung der staatlichen Wohnungsbau-Förderprogramme. Es bedarf jedoch aktiver kommunaler Wohnungsbaupolitik, um bezahlbaren Wohnraum für alle zu sichern.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe beschreibt die sich zuspitzende Situation wie folgt: Seit 1990 ist der Bestand an Sozialwohnungen, der die Versorgung ärmerer Bevölkerungsschichten sicherstellen soll, um ca. 60 Prozent gesunken, während der Niedriglohnsektor ausgeweitet wurde. Im Jahr 2020 waren ca. 417.000 Menschen in Deutschland wohnungslos. Und viele weitere Haushalte in Deutschland drohen, ihre Wohnung zu verlieren. Wer aber wohnungslos ist, hat kaum noch Chancen, eine neue Wohnung zu beziehen.

Wohnungslos ist nicht automatisch obdachlos

Dabei bedeutet wohnungslos nicht auch zwangsläufig, dass die Menschen kein Dach über dem Kopf haben. Viele leben bei Freunden oder in Notunterkünften. In der Stadt Haltern am See leben ca. 400 Personen dauerhaft auf Campingplätzen, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden. Die Betroffenen haben aber keinen eigenen Mietvertrag. Und ohne einen eigenen festen Wohnsitz haben sie Probleme bei der Gesundheitsversorgung, bei der Bankverbindung und in vielen anderen Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe.

Beratungs- und Hilfsangebote vor Ort

Deshalb gibt es neben Notunterkünften viele Beratungs- und Hilfsangebote etwa von der Diakonie und Caritas oder Bahnhofsmission, aber auch von Kirchengemeinden wie z.B. der Gastkirche in Recklinghausen oder der Erlöserkirche in Herten. Die Kreisverwaltung Recklinghausen stellt über ihr Gesundheitsamt die ärztliche Betreuung der Wohnungslosen sicher. In der Stadt Haltern am See bemüht sich das „Netzwerk Bezahlbares Wohnen“ der Sixtus-Pfarrgemeinde und Caritas um die Wohnungsversorgung von Bedürftigen. Doch fast 100 Wohnungen in Haltern sind mit  Billigung der Stadt  als Ferienwohnungen blockiert, die den Wohnungssuchenden nicht zur Verfügung stehen

Armutsgefährdung reicht bis in die Mittelschicht

Die Wohnungsmarktsituation ist in vielen Teilen Deutschlands (…) sehr angespannt. Preiswerter Wohnraum ist knapp. Die Nachfrage übersteigt das Angebot deutlich. Selbst die Mittelschicht ist bei steigenden Mieten und Nebenkosten sowie eintretenden Schicksalsschlägen wie Arbeitslosigkeit, Erkrankung, Überschuldung, Scheidung u.a. vor Räumungsklagen und Wohnungslosigkeit nicht gefeit. Immer mehr Menschen sind in Deutschland armutsgefährdet (Stand 2020 über 16 Prozent der Bevölkerung). Damit nimmt auch die Zahl der von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen zu. Die Prävention von Wohnungslosigkeit wird immer wichtiger – auch angesichts der hohen Folgekosten von Wohnungslosigkeit. Denn: Vermeidung von Wohnungslosigkeit ist die beste Hilfe.

Steigende Mieten und Mietbelastungen

Infolge unzureichender politischer Maßnahmen steigen die Mieten und Mietbelastungen. Die eigenen vier Wände sind für viele kaum noch oder immer schwieriger zu finanzieren, zumal steigende Energiekosten und Preissteigerungen in vielen anderen Lebensbereichen die verfügbaren Mittel erheblich reduzieren. Die Kosten der Unterkunft (KdU) sind zu niedrig angesetzt, sodass insbesondere für Menschen mit SBG II-Anspruch (bzw. Bürgergeld) immer weniger bezahlbarer Wohnraum in Frage kommt. Zusätzlich fehlen in vielen Kommunen und Landkreisen präventive Maßnahmen. Auch das Leben in unzumutbaren und beengten Wohnverhältnissen ist Realität. Diesen Entwicklungen muss politisch auf allen Ebenen entgegengewirkt werden: Wohnen ist ein Menschenrecht!

Aufgabenkatalog für die Kommunen und Landkreise

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sieht folgenden Aufgabenkatalog für die Kommunen und Kreise:
• Kommunale Wohnraumversorgungskonzept entwickeln, die insbesondere die Bedarfe von Menschen mit niedrigen Einkommen und Transferleistungen berücksichtigen.
• Bindungen und Quotierungen im Sozialwohnungsbestand für wohnungslose Menschen sowie die gezielte Akquirierung von Wohnbeständen bei privaten Vermietenden und der Wohnungswirtschaft.
• Gewährleistungsverträge (z. B. Generalmietermodell) zwischen Kommune und Wohnungswirtschaft abschließen, um (befürchtete) Vermietungsrisiken zu reduzieren und die Vermietungsbereitschaft an Wohnungslose zu erhöhen.
• Wohnungsbauförderprogramme aktiv nutzen.
• Stärkung bzw. Wiederaufnahme des Sozialen Wohnungs(neu)baus mit dauerhaften oder langfristigen Belegungsbindungen.
• Belegungsbindungen erhalten und neu erwerben.
• Verkauf kommunaler Wohnungsunternehmen stoppen sowie Chancen auf Rückkauf nutzen.
• Beim Verkauf aller städtischen Bauflächen sollte das kooperative Baulandmodell zur Anwendung kommen.
• Angemessene Mietobergrenzen anhand von Mietspiegel bzw. Vergleichsmieten ermitteln, dabei Bestands- und Neuvermietungsmieten einbeziehen.
• Schlichtwohnungen/ordnungsrechtliche Unterbringungen auflösen und durch Normalwohnraum/sozialen Wohnungsbau in kommunaler Hand ersetzen.
• Zweckentfremdungsverordnungen erlassen und durchsetzen, damit Mietwohnungen, insb. in attraktiven Lagen nicht als Ferienwohnungen dem Wohnungsmarkt entzogen werden.
• Milieuschutzgebiete festlegen, um die bisherige Wohnbevölkerung zu schützen.

Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass die Kommunalpolitiker und Stadtverwaltungen aktiv werden und statt der einseitigen Ausrichtung ihrer Wohnungspolitik auf teure Einfamilienhäuser und hochpreisige Eigentumswohnungen bedarfsgerecht umsteuern zugunsten bezahlbarer Mietwohnungen.

Mit dieser Thematik befasst sich aktuell auch eine wohnungspolitische Tagung am 23. Oktober 2023 in Haltern am See, siehe https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/tagung-in-haltern-mit-neuen-ideen-und-praxisbeispielen-fuer-bezahlbares-wohnen_a1882505

Wilhelm Neurohr, 11. September 2023

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

Webseite von Wilhelm Neurohr
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