Hemer: Dreh- und Angelpunkt einer ungewöhnlichen deutsch-russischen Freundschaft

In einer Schlussanekdote präsentierte Hugo Wienand ein bis heute vom ihm gehütetes Relikt aus seiner Gefangenschaft in Rußland: selbst gefertigte, einfache Holzsandalen. Diese ähneln verblüffend jenen  Resten, die im April dieses Jahres am historischen Stalag-Standort in einem Kriechkeller im ehemaligen Kasernengebäude 18 (heute Jüberger-Musikclub) gefunden und geborgen worden sind. | Foto: Verein
  • In einer Schlussanekdote präsentierte Hugo Wienand ein bis heute vom ihm gehütetes Relikt aus seiner Gefangenschaft in Rußland: selbst gefertigte, einfache Holzsandalen. Diese ähneln verblüffend jenen  Resten, die im April dieses Jahres am historischen Stalag-Standort in einem Kriechkeller im ehemaligen Kasernengebäude 18 (heute Jüberger-Musikclub) gefunden und geborgen worden sind.
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Vom Verein für Hemeraner Zeitgeschichte erreichte die Redaktion folgender Pressebericht:

"Einen nachdenklichen Geschichts- und Erinnerungsabend erlebten an die 40 Gäste am 3.12. abends im Paul-Schneider-Haus. Auf Einladung des Vereins für Hemeraner Zeitgeschichte e.V. berichtete der Hemeraner Hugo Wienand (88) unter dem Motto „Über alle Grenzen hinweg“ über seine wunderbare Freundschaft mit Alexandr Baratow aus Rostow am Don und zeigte Bilder dazu. Untermalt wurde der Abend mit Liedern, gesungen von Wienands Tochter Maria Köntopp. Die ersten Eindrücke des zweiten Weltkrieges erlebte Wienand noch als jugendlicher Zaungast. Er wohnte in der Nähe des Bahnhofs und kann sich lebhaft an die mit der Steigung kämpfenden, stampfenden Dampflokomotiven erinnern, die die Viehwaggons vollgestopft mit Kriegsgefangenen in den Bahnhof nach Hemer zogen. Die Züge waren so lang, dass sie geteilt und auf verschiedene Gleise rangiert werden mussten, bevor die Gefangenen herausklettern konnten. Wenige Jahre später wurde Wienand selbst vom Kriegsmoloch verschlungen. Im Rußlandfeldzug  geriet er in Gefangenschaft und wurde schließlich in ein kleines, lediglich 20 Mann umfassendes landwirtschaftliches Arbeitskommando in einem Lager nahe am Ufer des Don verlegt. Zwar waren die Essensrationen so bemessen, dass häufiger „Kohldampf geschoben“ werden musste, das Überleben war jedoch gesichert. Die milde Witterung und der russische Wachposten erlaubten gar, dass die Gefangenen im Wasser des Don baden durften. 1947 kam er wieder nach Hause nach Hemer.
Das Zivilleben mit Familie und Beruf beschäftigten ihn in den kommenden Jahrzehnten vollauf und die Erinnerungen an Russland flackerten nur noch gelegentlich auf, doch es waren die Zeiten des Eisernern Vorhangs und es gab keine Chance, einmal nach Rostow zu reisen.   
Mehr als 50 Jahre später waren die Erinnerungen an eine kurze glückliche Zeit am Don plötzlich sofort wieder da, als nämlich bei einem Lichtbildervortrag über Projekte der „Kirche im Osten“ in der Iserlohner Partnerstadt Nowotscherkassk zwei aus dem Flugzeug fotografierte Bilder vom Don mit zwei auffälligen Flußinseln gezeigt wurden, die Hugo aus einer Zeit in Rostow bekannt waren. Dort am Ufer war einst sein Lager gewesen. Ob man Reste des Lagers heute wohl noch sehen könnte, ob es wohl nach über einem Jahrhundert in der Stadt noch Menschen gab, die sich an das kleine Lager erinnern konnten? Im Jahre 2000 schließlich schrieb Hugo Wienand einen Brief an den Rostower Bürgermeister, in dem er um Hilfe bei der Suche nach Zeitzeugen bat und sich gleichzeitig bedankte, dass er in schwerer Zeit überleben konnte. Bei Wienand trafen 7 Zuschriften ein, die ihn in der Sache jedoch nicht so recht weiter brachten. Eine Zuschrift jedoch weckte besonderes Interesse: Alexandr Baratow schrieb, dass er Hemer aus der Kriegszeit kennt, weil er dort als Kreisgefangener mehrer Jahre im Stalag VI war. Er hatte dort als Sanitäter gearbeitet und dabei viel Leid und Not und Menschenverachtung erlebt. Er hatte aber durchaus positive Erinnerungen an Hemer, denn nach der Befreiung durfte er als ehemaliger Gefangener in die Freiheit und lernte in der Stadt die Zwangsarbeiterin Irina kennen, das Glück seines Lebens. Die Ukrainerin war Zwangsarbeiterin bei der Firma Becke-Prinz gegenüber dem Bahnhof (heute Hademareplatz und Hallenbad). Kurze Zeit waren die beiden ein Paar und haben nach der Rückkehr nach Rußland eine Familie gegründet. Hugo Wienand war so fasziniert vom Schicksal Baratows, dass sich aus dem ersten brieflichen Kontakt eine herzliche Freundschaft entwickelte. Im Jahre 2003  besuchte Hugo Wienand erstmals seinen Freund in Rostow und man ging auf Spurensuche nach dem Lager am Don. Die beiden Männer hatten sich, und das ging nur über Dolmetscher, viel zu erzählen und entdeckten dabei überraschende Parallelen bei den Erfahrungen in der Gefangenschaft in Rostow und in Hemer. Gefangenschaft bedeutet immer Entwürdigung und Erniedrigung des Menschen. Man ist der Willkür des „Siegers“ ausgesetzt und sehr oft in Lebensgefahr. Krieg kennt nur wenige Gewinner, aber Millionen Verlierer.
Hemer und Rostow waren und sind Dreh- und Angelpunkte im Leben beider Männer. Hugo Wienand war glücklich, im Jahre 2005 ein zweites Mal nach Rostow reisen zu können. Gerne würde er seinen Freund noch einmal besuchen und der mittlerweile 90-jährige Alexandr Baratow würde gern nach Hemer kommen und die Stadt hat eine Einladung ausgesprochen, aber angesichts des vorgerückten Alters beider sind diese Reisen leider nicht mehr möglich.
Hugo Wienand erinnerte mit viel Bewunderung an die für Hemer prägnant gewesene länderübergreifende deutsch-russische Freundschaft von Emil Nensel mit Nikolai Gubarew."

Autor:

Christoph Schulte aus Hemer

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