Schluß mit Vorurteilen - warum Flüchtlinge Smartphones besitzen (müssen!)

Im Rahmen der vielen Debatten rund um die Flüchtlinge, die NRW im Allgemeinen und Herten im Besonderen erreichen, taucht ein ganz bestimmter Satz - in beliebiger Ausgestaltung - immer wieder auf: "die haben ja alle Smartphones!" Meist gefolgt von empörten Kommentaren und ganz viel versteckter oder offener Fremdenfeindlichkeit. Da ich persönlich in den zurückliegenden Wochen etliche Male mit diesem Thema konfrontiert wurde, möchte ich die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle mal mit diesem Vorurteil aufzuräumen. Mit Fakten.

Es gibt leider unter vielen Mitbürgern eine ausgeprägte, unschöne Neidkultur. Der Grundtenor lautet: niemand, der vom Staat Hilfe bekommt, darf mehr haben als ich! Zur Not definiert sich der Neidkulturbürger den "Luxus" nach eigenem Gusto. Die Grundhaltung, die dahinter steht, empfinde ich als äußerst ungesund, ist sie doch in erster Linie ausgrenzend. Wer in Not ist, muß gefälligst besitzlos sein. Ansonsten wird ihm das Wenige, was er noch hat, geneidet. Wo steht eigentlich geschrieben, daß ein Hartz-4-Empfänger keinen Flachbildfernseher haben darf und ein Flüchtling keinen Schmuck oder - worum es in diesem Artikel geht - kein Smartphone? Und wer definiert, was ein Mensch braucht und was nicht?

Wenn man einmal mit Menschen spricht oder selbst zu recherchieren beginnt, bleibt von solchen Vorurteilen meist nicht viel übrig. So ist es auch in der Smartphone-Frage. Denn viele Flüchtlinge, die nach Europa kommen, bringen ihre Smartphones bereits mit.

Während Anfang der 2010er Jahre Smartphones und damit die mobile Internetnutzung sich in Europa, den USA und den asiatischen Industrienationen schon weit ausgebreitet hatten, waren die Märkte in Afrika und dem Nahen Osten noch ziemlich unterentwickelt - ein Potenzial, welches Telekomkonzerne und Geräteproduzenten wirtschaftlich zu erschließen gedachten.
Der massive Netzausbau für mobile Kommunikation hat in den infrastrukturell wenig erschlossenen Gebieten geradezu einen Boom ausgelöst. Mit einem mal war es auch ohne Verlegung von Kabeln, regelmässiger Stromversorgung und großangelegter Infrastruktur möglich, das Internet zu nutzen.

Ein Gerät für Alles

Doch High-End-Geräte der neuesten Generation sind für Menschen in vielen anderen Ländern kaum erschwinglich. Deshalb produzierten die namhaften Smartphone-Hersteller speziell für diese Märkte Geräte, die äußerlich den Geräten auf dem europäischen Markt gleichen, allerdings technisch abgespeckt und weniger Leistungsfähig sind. Andere Hersteller spezialisieren sich gleich auf sogenannte "50$-Smartphones".

Die zweite Variante: Hersteller bieten ihren Kunden neue Geräte zum Tausch für die alten Smartphones bei Vertragsverlängerung an. Andere Firmen kaufen gegen geringes Entgeld gebrauchte Handys auf. Kaum jemand fragt sich, wo diese Second-Hand-Ware am Ende "landet" - oftmals auf den Märkten im Nahen Osten und in Afrika. Schon 2004 hatte jeder zweite Südafrikaner ein Mobiltelefon. 2009 jeder zweite Syrer.

Für viele Menschen ersetzen Smartphones alle anderen Geräte wie z.B. Laptops, Fernseher, Spielekonsole, Tablet, PC, Fax etc.
Smartphones werden für Zahlungsverkehr, Informationsgewinnung und praktische Anwendungen eingesetzt. Zudem funktionieren sie auch dort, wo die Stromversorgung oder Telefon-Festnetz gar nicht oder nur unzuverlässig vorhanden ist - zur Not lädt man sein Gerät eben mit Solarstrom auf.

Das Smartphone wird zum Lebensretter

Der "Arabische Frühling" wäre ohne Smartphones und mobiles Internet nicht denkbar gewesen. Während staatliche Informationsquellen konsequent zensiert und die öffentliche Kommunikation überwacht wurde, konnte die Bevölkerung weiterhin via Smartphone miteinander kommunizieren, sich vernetzen. Mehr noch: die vielen Bilder und Videos von den Geschehnissen vor Ort gelangten via Internet in alle Welt. Als Syrien im Krieg versank, wurde das Smartphone zum überlebenswichtigen Werkzeug, mit dem sich Menschen vor dem Heranrücken z.B. des IS warnen konnten.

Und auch auf der Flucht ist ein Smartphone von enormem Nutzen. Es ermöglicht, mit Menschen telefonisch oder via Internet in Kontakt zu treten. Es bietet Apps, die bei der Übersetzung in andere Sprachen helfen, Kartenmaterial liefern und die Orientierung erleichtern. Müssen sich Familien trennen, bleibt das Smartphone die einzige Möglichkeit, den Kontakt aufrecht zu erhalten.
Kein Wunder, dass Flüchtlinge ihre Smartphones bei sich behalten. Kein Wunder, dass sich Flüchtlinge von ihrem "Taschengeld" bei Bedarf ein neues Smartphone zusammen sparen - und ein großer Teil des bisschen Geldes für die Telekommunikation ausgeben.

Wenn Sie also das nächste mal einen Flüchtling sehen, der - wie übrigens mittlerweile der überwiegende Teil Ihrer Mitmenschen - auf seinem Smartphone herum tippt, stellen Sie sich doch einmal die folgende Frage:
wenn Sie nur einen Rucksack füllen könnten und dann die Flucht antreten müssten - welche Sachen würden Sie mitnehmen? Die meisten Mitmenschen würden ihr Mobiltelefon heutzutage jedenfalls nicht mehr zurücklassen. Smartphones sind hierzulande für viele Mitmenschen einfach zum normalen Bestandteil des Alltags geworden. Warum sollte das in anderen Ländern anders sein?

Autor:

Sascha Köhle aus Herten

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