Vom kleinen Michel, der das Christkind sehen wollte!

Der kleine Michel hatte nur einen Wunsch, einen ganz kleinen - oder großen, wie man es nimmt: Er wollte unbedingt einmal das Christkind sehen. Immer vor Weihnachten versperrte Michels Mutter das Speisezimmer, damit das Christkind dort ungestört ein - und ausfliegen konnte.Kaum war das Zimmer verschlossen, war auch schon der Michel beim Schlüsselloch und spähte in das geheimnisvolle Zimmer.
War da nicht ein Lichtschein? Flimmerte es nicht wie von goldenem Engelshaar? Nein, nichts, rein gar nichts war zu sehen, denn Mutter, die ihren neugierigen Buben genau kannte, hatte fürsorglich das Schlüsselloch verhängt. Doch je weniger Michel sehen konnte, um so brennender wurde seine Sehnsucht, einmal nur ein einzige Mal in das versperrte Zimmer gucken und das Christkind beobachten zu können.
So groß wurde sein Verlangen, daß er oft nachts nicht einschlafen konnte und hinausblickte in die Winternacht,zum Himmel, an dem die Sterne glänzten. Sie glitzerten und funkelten die ganze Nacht, aber das Christkind flog niemals vorbei.
Eines Nachts, als Michel wieder wach lag, zupfte auf einmal etwas an der Bettdecke, und da stand mitten im mondhellen Zimmer ein Zwerglein. " Soso ",sagte es, " da liegt er also, der Schlüssellochgucker, der mich so oft in meinem Schlaf stört.Rasch, steh auf - komm mit mir. Ich will deine Neugier stillen, nur damit ich endlich Ruhe vor dir habe."
"Wer - wer bist du?" fragt der Michel verwundert.
"Ich bin das Schlüssellochmännchen, das alle Geheimnisse kennt, und das du immer im Schlaf störst, du neugieriger Schlingel! Und jetzt, dalli - wir klettern durchs Schlüsselloch ins Weihnachtszimmer!"
Michel fuhr aus seinem Bett und in die Pantoffeln, aber da sah er erst wie winzig klein das Männlein war. " Ja wie kann ich denn mit dir gehen? Ich bin doch so groß." "Das laß meine Sorge sein!" Das Männlein nahm einen Maßstab aus der Tasche und ließ ihn in die Höhe schnellen, bis er Michels Kopf erreicht hatte. Dann zog er ihn wieder ein. Als der Maßstab zusammenschnurrte, wurde auch Michel immer kleiner. Zuletzt reichte er dem Männchen nur noch bis zu denSchultern.Der Zwerg nahm Michel bei der Hand. An einem Spinnwebfaden kletterten sie zum Schlüsselloch des Speisezimmers. Hastig zerrte das Männlein Michel durch das Schlüsselloch. Auf der anderen Seite gab's auch einen Spinnfaden, und hurtig rutschten die beiden daran hinunter.

" So, nun guck dich um, neugieriger Lausbub!" knurrte der Zwerg und ließ den Maßstab wieder in die Höhe schnellen. Gleich war der Michel wieder groß. Verwundert blickte er im Zimmer umher.Es war bekannt und fremd, vertraut und geheimnisvoll.Ein großer Weihnachtsbaum stand in der Ecke.Silberne Kugeln schimmerten aus dem Grün. Auf dem weißgedeckten Weihnachtstisch lagen schon die Geschenke.Was es alles gab! Alle Wünsche hatte das Christkind erfüllt, sogar die allerheimlichsten.
Ganz genau schaute sich Michel alles an, aber - was war das nur? - er konnte sich nicht ein bißchen freuen. Dämmerig war's im Zimmer. Kein Kerzengefunkel! Kein Weihnachtsglanz! Wie ein Dieb kam sich der Bub plötzlich vor, wie er da in seinen Weihnachtssachen herumstöberte - wie ein Dieb an seiner eignen Weihnachtsfreude.

Der Kasperl auf dem Tisch streckte ihm die Zunge heraus." Dummer Kerl ! " kicherte er, " dummer Kerl ! " Und auch das Schlüssellochmännchen lacht höhnisch.

Blendend hell war's plötzlich im Zimmer geworden. Alles glänzte strahlender noch als am Weihnachtsabend. Der Kasperl machte eine tiefe Verbeugung und sogar das Schlüssellochmännchen nahm die Kaputze ab.

" Michel ", sagte eine sanfte, liebe Stimme, " so lange spionierst du mir schon nach kleiner Michel! Nun bin ich da, du mußt dich nur umdrehen. "

Aber Michel rührte sich nicht. Nur sein Herz schlug so schnell wie noch nie.
" Nein! Nein! Nein ! " schluchzte er. " Ich hab' heute schon genug gesehen, Christkind! Ich will nichts mehr wissen! Ich woll nichts mehr sehen! Alle Freude hab' ich mir verpatzt! Wenn ich doch nur alles wieder vergessen könnte !"

" Dummer, neugieriger kleiner Michel !" sagte das Christkind lächelnd. Zärtlich legte es seinen Arm um Michels Schulter, und der Bub fiel sogleich in teifen Schlaf. Behutsam trug ihn das Christkind in sein Bettchen zurück und betrachtete ihn lächelnd.

" Schlaf gut Michel! Vergiß alles, was du vergessen willst! "
Und der Michel hat wirklich alles vergessen - sogar seine Neugier.

Autor:

Roswitha Dudek aus Kamp-Lintfort

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