Ein Bild - Eine Geschichte
Hexenfeuer

Zielstrebig marschierte Eyla den schmalen Pfad entlang. Er war im Unterholz kaum auszumachen und nur für diejenigen, die wussten, dass er da war, zu erkennen. Es knackte hinter ihr. Sie blieb stehen und sah sich mit klopfendem Herzen um. Wurde sie verfolgt? Sie versuchte, das dichte Grün des Waldes mit ihrem Blick zu durchdringen, doch sie erkannte nichts Verdächtiges. Einen Moment später hoppelte ein Kaninchen auf den Pfad, blieb vor ihr hocken, richtete sich kurz auf, die Nase zuckte, dann verschwand es im Unterholz. Eyla atmete erleichtert auf. Der Ort, zu dem sie unterwegs war, musste geheim bleiben.

„Da bist du ja endlich!“ Arya kam Eyla entgegen und zog sie in eine kurze Umarmung. „Ist dir jemand gefolgt?“
Eyla schüttelte erst den Kopf, zuckte dann mit den Schultern. „Ich denke nicht, bin mir aber nicht sicher.“
Arya presste kurz die Lippen zusammen. „Monja glaubt auch, dass ihr vielleicht jemand gefolgt sein könnte.“ Sie zog Eyla mit sich in die Mitte der Lichtung. Das Pentagramm war bereits in den Boden geritzt und das Feuer in seiner Mitte entzündet. Drei weitere Frauen hatten sich versammelt. Eyla kannte sie schon lange. Auch sie waren Hexen und lebten in den umliegenden Dörfern. Noch vor wenigen Tagen hätten sich auf dieser Lichtung dreimal so viele Hexen versammeln können. Doch König Xander hatte ihnen den Krieg erklärt. Seine Soldaten waren in die Dörfer eingefallen und hatten ihre Schwestern verschleppt. Nur sie waren noch übrig.
„Beeilt euch! Wenn wir die Beschwörung einmal begonnen haben, können sie uns nicht mehr aufhalten.“ Arya stellte sich an eine der Spitzen des Pentagramms und streckte Eyla ihre Hand entgegen.
Rasch nahm Eyla an der nächsten Spitze ihren Platz ein und reichte ihren Schwestern die Hände. Sie spürte die Hitze der Flammen. Dieses Ritual war uralt. Es war zum letzten Mal lange vor ihrer Geburt ausgeübt worden. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt. Auch damals waren Hexen verfolgt worden. Der Feuergeist war ihnen zu Hilfe geeilt und für lange Jahre hatten sie in Frieden unter den Menschen leben können. Heute würde sie ihm zum ersten Mal gegenüberstehen. Es hieß, dass er von Zeit zu Zeit sich des Körpers eines Mannes bemächtigte und unter den Menschen wandelte. Die Mädchen, die er zeugte, wurden zu Hexen. Alle Hexen waren seine Kinder. Ob das wohl wahr war? Oder hatte sich ihre Mutter das nur ausgedacht, um Eyla darüber hinwegzutrösten, dass ihr Vater sie noch vor ihrer Geburt verlassen hatte? Sie hatte ihren Vater nie kennengelernt.
Gemeinsam stimmten sie die Beschwörung an. Eyla kannte den Gesang auswendig, sie konnte ihn im Schlaf zitieren. Die Melodie trug die Worte zum Himmel. Wolken zogen sich zusammen, es wurde dunkel und die Tiere des Waldes verstummten. Es war nur noch ihr Gesang und das Prasseln des Feuers zu hören. Die Flammen loderten höher, das Prasseln wurde lauter. Langsam formte sich eine Gestalt aus den Flammen.
Hinter Eyla knackte es. Mehrere Soldaten des Königs brachen durch die Büsche. Sie umzingelten die Frauen. Eyla schwitzte, doch ihre Stimme wankte nicht. Sie waren bereits unter dem Schutz des Feuergeistes. Auch wenn er noch nicht seine endgültige Gestalt angenommen hatte, konnten die Soldaten sie nicht mehr verletzen.
Der Kreis der Soldaten schloss sich enger um sie. Undeutlich nahm sie ihre Rufe wahr. Sie konzentrierte sich auf den Gesang, sie hatten es fast geschafft. Die Umrisse der Gestalt wurden deutlicher, der Körper fester, definierter.
Aus dem Augenwinkel sah Eyla, wie mit den gezogenen Schwertern ausgeholt wurde, doch anstatt ihre Schwestern niederzustrecken, prallten die Schwerter von einer unsichtbaren Wand ab.
Das Feuer erlosch, der Gesang verstummte. Im Pentagramm stand ein Mann. Sein Körper glühte wie Eisen im Feuer, von roten Linien überzogen. Seine Augen leuchteten gleißend weiß. Schemenhaft konnte Eyla durch ihn die Schwestern auf der anderen Seite des Pentagramms erkennen. Sein Körper war nicht so fest, wie sie zuerst gedacht hatte. Eyla und ihre Schwestern sanken auf ihre Knie und beugten ihre Häupter vor ihm.
„Ihr habt mich gerufen. Was ist Euer Begehr?“
Arya hob den Kopf, streckte ihm die Hand entgegen. „Vater, wir werden verfolgt. Viele unserer Schwestern wurden von den Soldaten des Königs gefangen genommen und wahrscheinlich ...“ Sie senkte den Kopf, Tränen liefen über ihre Wangen.
Der Feuergeist beugte sich zu ihr hinunter und legte eine Hand auf ihren Kopf. „Ich weiß, meine Tochter. Ich spürte gerade das Verlöschen ihrer Flammen.“ Er strich ihr über die Wange, fasste sie sanft am Kinn und hob ihren Kopf. „Ihr seid nun in Sicherheit, meine Kinder. Euch wird kein Leid mehr geschehen.“
Er richtete sich auf und starrte die Soldaten an, die sie immer noch umzingelten. Das Licht in seinen Augen strahlte noch heller und die Soldaten zerfielen zu Asche. Er wandte sich ihnen wieder zu und legte einer nach dem anderen die Hand auf den Kopf. Eyla fühlte eine tiefe Verbundenheit, als er sie berührte. Der Feuergeist war ihr Vater und sie alle waren Schwestern. Und eines Tages würde auch sie eine Tochter von ihm empfangen und seine Magie an die nächste Generation weitergeben.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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