Spielzeitauftakt im Schauspielhaus Bochum: „King Lear“ in Corona-Zeiten
Pierre Bokma als König verliert sich in Einsamkeit und Verzweiflung

Pierre Bokma als "King Lear". Pressefoto Schauspielhaus Bochum / JU_Bochum
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BOCHUM. Als Shakespeare das Alterswerk „King Lear“ im Winter 1605 /1606, vermutlich erstmals heraus brachte, wütete die Pest in London:

„Es ging ihm wie mir heute! Der Corona-Shutdown Mitte März war für uns alle ein kompletter Schrecken, ohne zu wissen, wann es weiter gehen würde.“, so Regisseur Johan Simons auf der Pressekonferenz zwei Tage vor seiner Lear-Premiere: „Alles muss neu gedacht werden – und vor allem mit Abstand!“

Simons prinzipieller Arbeits-Ansatz ist die Suche nach der Essenz eines jeden Stückes:

Er reduziert gern zu Gunsten der Grundkonflikte. Der intelligente und geschmackssichere Bühnenbildner Johannes Schütz stellt dafür einen „Playground“ zur Verfügung, der in seiner konsequenten Ästhetik porentiefe Analyse und spannende Assoziationen durch großartige Bilder ermöglicht. Auf der weißen Wand mit unterschiedlich hohen Durchgängen wird schwarz-weiß in Echtzeit und wie in einem Karussell das Geschehen hinter der Wand übertragen (Video-Regie: Lennard Laberenz). Dort halten sich alle Beteiligten, wenn sie gerade nicht vorn auf der Bühne agieren, gut kamera-sichtbar projeziert in einem büroartig holzverkleideten Raum auf. Das erzeugt Nähe und Abstand zu gleich und vor allem gemeinsam mit einem dumpfen Meeres-Wellen-Donner-Rollen eine große Dynamik, die sich entscheidend auf Handlung - und Haltung der Schauspieler auswirkt.

Es ist Johan Simons zweiter „Lear“, nach dem 2013 an den Münchner Kammerspielen:

„Wir hatten da echte Schweine auf der Bühne, die sind in den neun Monaten der Aufführung immer größer geworden und die Schauspieler hatten alle Angst vor diesen Schweinen.“, berichtet Simons und auf die Frage, warum er außer „einer Wiedergutmachung an Shakespeare“ das Stück noch einmal inszenieren wollte: „Ich persönlich? Man übt die Vaterrolle. Auch eine neue Vaterrolle für mich. Wir alle sind in einer neuen Situation. Mein Sohn hat zu mir gesagt, ich trage die Maske wegen Dir! Das ist (wie in Lear) ein Liebes-Beweis. Da ist eine junge Generation, die wird die Kosten ihrer Eltern zahlen. Das war auch schon so vor dem Lockdown. Lear ist der exemplarische Verfall von väterlicher Autorität.“

Simons holländischer Schauspielerfreund Pierre Bokma ist als König Lear in der Tat ein sich gutmütig gebender Bürgerkönig: Er will sein Reich unter seinen Töchtern aufteilen (was er anschaulich an Hand eines großen Erdhaufens macht). Und damit auch offiziell seine Macht abgeben, um anschließend je nach Lust und Laune abwechselnd bei seinen Töchtern zu leben. Mit allen Ehren und Titeln, versteht sich. Den größten Erbteil soll die bekommen, die ihn am meisten liebt.

Die beiden älteren Töchter (in männlicher Besetzung Goneril: Mouras Baaiz und Regan: Michael Lippold, so entfallen gleich deren Ehemänner-Rollen, von ihnen sozusagen mitgespielt) loben und schmeicheln, wie von Lear erwartet, wortgewandt und berechnend. Nur die jüngste, noch sehr pubertäre Lieblingstochter Cordelia (als einzige Tochter original weiblich besetzt mit Anna Drexler) verweigert sich und antwortet nur: „Ich lieb dich, wie ich muss.“ Sie wird vom enttäuschten Pappa Lear ohne Mitgift und ohne Land mit dem König von Frankreich verheiratet und aus England verbannt.

Lears Abstieg aber geht schnell und unaufhaltsam:

Die Königstöchter sind schnell genervt und überfordert vom lustigen Alten, der es sich auf ihre Kosten gut gehen lässt. Sie sind sich schnell einig: Nach dem Rausschmiss auch durch Gonerils Haushofmeister Oswald (roh und knallhart: Stefan Hunstein) ist Lear mit seinem Narren schon allein auf der Heide und sehr elend. Dass mit dem freiwilligen Abschied von der Macht auch die Liebe seiner Töchter verschwand, will Lear sich da noch nicht wirklich eingestehen. Anna Drexler spielt in alternativer Zweit-Rolle ihren Narren wie eine noch verrücktere und emotionalere Cordelia. Ihre Narrenkappe, eine schwarz-weiß-gestreifte Hut-Creation, hat sie da zwar dabei, nutzt sie aber kaum. Ihre Szenen mit dem verzweifelten und darüber irre werdenden Lear sind berührend, aber auch ein bisschen willkürlich wild. Bei Shakespeare tritt der Narr erst auf, wenn Cordelia in Frankreich ist.

Steven Scharf als „Graf von Gloster“ gelingt ein Stück im Stück:

Bei Hofe noch ein eleganter Salonlöwe, von seinem unehelichen Sohn Edmund (wirklich richtig intrigant: Patrick Berg) aus allem rausgedrängt, seelisch abgrundtief verletzt und körperlich geblendet, muss er allein umher irren. Auch Gloster landet auf der Heide. Wo sein von ihm zu Unrecht verstoßener ehelicher Sohn Edmund (Konstantin Bühler), als „armer Tom“ elend und erdverschmiert schon auf Lear und den Narren getroffen ist. Gloster erkennt seinen Sohn Edmund nicht, der gibt sich auch nicht zu erkennen, hilft aber erschüttert seinem geblendetem Vater ...

Wie in Simons „Hamlet“- Inszenierung übernimmt Ann Göbel (als König von Frankreich) die Rolle des Schlachten-Erzählers in dem für fast alle tödlichen Schluss-Akt:

Selten ist das Aufbrechen von Lebenslügen, die Trostlosigkeit des Alterns in Einsamkeit und Armut so sachlich zelebriert worden. Die starken Bilder bleiben. Bokma und die andern Acht wurden mit zahlreichen Applaus-Runden für Ensemble und Regie-Team von immerhin 340 begeistert klatschenden Händen der corona-bedingt beschränkten Zuschauerzahl von 170 im Großen Bochumer Haus belohnt - wie viel es wohl 1605 waren, zu Zeiten der Pest-Infektionsgefahr. Hatten die auch je vier Plätze links und rechts neben sich frei?    (cd)

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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