Achtsamkeit
Sinnliche Achtsamkeit im äußeren Chaos

Sinnliche Achtsamkeit
Im hell erleuchteten Badezimmerspiegel zeigte sich die Wahrheit des frühen Morgens. Was sich dort abspielte, wollte ich lieber gar nicht sehen. Seit wann hingen die Lider wie schlaffe Luftballonstücke über den Augen? Und die roten Äderchen auf meiner hellen Haut, ein Relikt an das Rauchen und den gelegentlichen Alkoholgenuss? Ich wandte meinen Blick zögernd zu den nett blond gefärbten Haaren. Das war das einzig Jugendliche an mir und das war nicht echt.
Sanft cremte ich mein Gesicht, streichelte es und empfand es als wohltuend, für mich da zu sein.
Wie lange war es her, dass Robert mich verlassen hatte? Ich konnte mich nicht erinnern, zwei, vielleicht drei Jahre? Besonders hatte ich ihn nicht gemocht, doch es gab Halt, wenn ich  für ihn Gulasch kochte oder Socken wusch. Gut, dass ich nie zu ihm gezogen war…
Ich betrachtete meinen etwas schiefen Mund. Schön festzustellen, dass ich noch eine ausgeprägt sinnliche Unterlippe hatte. Mit dem Zeigefinger strich ich über die Lippen und verspürte ein leichtes Kribbeln.
Peter hatte mich küssen wollen, hatte theatralisch meine Brille abgesetzt, mein Haar zurückgestrichen, und ich hatte verweigert, begonnen zu zittern. Mit einem dummen Spruch hatte ich ihn weggedrängt.
Manfred war ein komischer Kerl gewesen, rief an: „Ich bin in fünf Minuten da!“ und es erfreute mich nur teilweise, ungeschminkt, in alten Klamotten und einer völlig verschmutzten Küche. „Ich wollte sehen, wie du ungeschminkt lebst.“ sagte er, und dass er mit mir schlafen wolle.
Ich ließ warmes Wasser über meine Hände laufen und ärgerte mich über die rissigen Fingerkuppen. Ich tat immer zu viel mit den Händen, ohne Handschuhe, ohne sie zu schonen. Sie sahen wie Greisenhände aus, mit blau hervor wölbenden Adern wie kleine Schlangen.
Doch ich war  stolz darauf. Was hatten diese Hände alles geschaffen, Malereien, Handarbeiten, Klavierspiel. Der rechte Mittelfinger war vom vielen Schreiben etwas verbogen, dort, wo der Kuli gegen ihn drückte.
Manchmal gelang es mir, Energie in meine Hände zu lenken und dann wurden sie ganz warm und strahlten aus. Das hatte auch Horst gefunden, als ich ihm einen runterholte. Er weinte. Ich empfand nichts für ihn, Horst, dem Lebensfrustrierten, der mich als sein Glück einordnen wollte. „Ich mache dich in meinem Bekanntenkreis öffentlich“ sagte er und ich fühlte den Würgegriff des Spießertums.
Ich ließ Badewasser ein und legte eine CD ein. Laut tönte die Musik durch sämtliche Räume. Ich goss Öl und Milch in das heiße Wasser, prüfte die Temperatur und stieg hinein. Das Wasser war angenehm, entspannte den Rücken, Bauch, die Beine. Wie ein Embryo genoss ich das völlige Untertauchen in Wärme und Geborgenheit. Die Musik klang durch das Wasser anders, lauter, dröhnender und ich hörte meinen Atem intensiv und lebendig.
Ich schloss die Augen und da tauchte ein Bild auf, das Bild, das ich tunlichst vermeiden wollte. Eine graue Kappe mit rotem Streifen, darunter ein sehr fettes rundes Gesicht, gehalten von einer zart gegliederten schönen Hand. „Man sagt, ich habe schöne Hände.“
- “Wo du mit deinen Händen rumfummelst als Arzt. Im Hintern.“ – „Nein. Zwischen den Beinen.“
Ich konnte mich genau an das Gespräch erinnern als habe es gestern stattgefunden. Dabei war es schon sehr lange her. Ich hatte es nicht geschafft, ihn für mich zu gewinnen. Er gab es  zu verstehen, doch ich verstand nicht, wollte nicht verstehen.
Mein Herz krümmte sich, brannte, schmerzte.
Am schrägen Dachfenster flogen krächzende Krähen vorbei, ein Omen an den Verfall?
Ich massierte meine Zehen, die Fußsohlen, doch ich kannte die Energiepunkte nicht. Trotzdem tat es gut.
Ich strich an den Beinen entlang, die vom Öl glatt und geschmeidig glänzten, streichelte meine Beine, Bauch, Brüste. Wenn ich nun den kleinen Punkt suchte, tastete?
Nein, heute nicht!
Ich goss Wasser über Haare und Gesicht, strich mit den nassen Händen über das Haar, die Wangen, immer wieder, wie eine Taufe, eine heilige Waschung, wie im Mutterleib.
- Mutter? - schoss es mir durch den Kopf.  Sie war weg,  im Nebel verschwunden.
Ich war allein.
Ich stieg aus der Wanne und trocknete mich mit einem großen Badetuch ab, das schon feucht von den Schwaden im Badezimmer war, cremte mich ein, setzte mich auf den Klodeckel und föhnte die Haare.
„Wann hat man mich vergessen?“ fragte ich den Föhn.
Er summte vor sich hin.
„Gibt es Glück?“ fragte ich den Föhn.
„Glück ist für jeden etwas anderes.“ sagte er.
„Und warum kann mein Glück, ich meine, warum kann ich nicht mit anderen glücklich sein?“
„Glück ist für jeden etwas anderes.“ summte er. „Wenn Glück abhängig ist von anderen, ist es ein kleines Glück. "
Eingewickelt in den Bademantel ging ich barfuß ins Wohnzimmer, genoss jeden Schritt meiner nackten Füße. Die Musik hatte geendet und das Rauschen der nahe gelegenen Autobahn wurde lauter.
Ein Nachbar kam. Als er die Treppe hinaufstieg, begann mein Herz zu klopfen. Ein toller Mann, jung und perfekt. Es gab keinen Kompromiss zwischen ganz oder gar nicht. Und dieser Mann fiel in die Kategorie „gar nicht“.
Und so wartete ich, wie ich immer gewartet hatte. Mein ganzes Leben. Und nichts passierte.
Um mich bildete sich eine Schutzhaut des Rühr-mich-nicht–an und in mir die Sehnsucht.
Doch heute fand ich mich schön, die kleinen Falten im Gesicht, den leichten Flaum um Mund und Kinn. Meine Augen leuchteten türkis, Kontrast zum gelbblonden Haar und  knallrotem Lippenstift. Alle Grundfarben vorhanden.
Seitdem ich Yoga machte, wuchsen Hals und Nacken und der Atem floss tief und ruhig. Manchmal war ich in einer Mitte.
Ewige Jugend ist Dummheit, dachte ich, denn ewige Jugend bedeutet, nicht zu wachsen. Wir reifen an unseren Wunden, nicht an der Leichtigkeit. So war es, als ich mich fand. Und ich fand mich, weil ich nie jemand anderes gewesen war als ich war, innen, außen, und alles, alles war gut.
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Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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