Dinslaken: Eine Stadt schaute zu

Heinz Ingensiep, Autor des Buches "Eine Stadt schaut zu" am Mahnmal für die Jüdischen Waisenhaus-Kinder in Dinslaken.
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  • Heinz Ingensiep, Autor des Buches "Eine Stadt schaut zu" am Mahnmal für die Jüdischen Waisenhaus-Kinder in Dinslaken.
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Am 10. November 1938: Das Ende des Israelitischen Waisenhausen in Dinslaken.

An Alfred Grimms Denkmal zum 10. November 1938 im Stadtpark zeigt der Publizist und langjährige leitende Redakteur der hiesigen NRZ-Ausgabe, Heinz Ingensiep seine Veröffentlichung „Eine Stadt schaut zu“. Der 75. Jahrestag des Dinslakener Waisenhauskinder-Pogroms, am Tage nach der sog.“Reichskristallnacht“, jährt sich am Sonntag in stillem Gedenken:

Gedenkfeier am Mahnmal für die Kinder des jüdischen Waisenhauses Dinslaken

14.30 Uhr: Einstimmung mit Glockengeläut der Innenstadtkirchen St. Vincentius und der Stadtkirche
14.35 Uhr Begrüßung (Wegmann)
14.40 Uhr Performance der Schüler und Schülerinnen des Berufskollegs:
- Tanz - Lesung - Verlesung der Namen der Kinder und ggf Anzünden von Kerzen
15 Uhr: Musikstück (Lex/Seitz)
15.05 Uhr: Ansprache des Bürgermeisters Dr. Heidinger
15.15 Uhr: Musikstück (Lex/Seitz)
15.20 Uhr: Beitrag von Herrn Hoffmann (jüdische Gemeinde Duisburg)
15.30 Uhr: Musikstück (Lex/Seitz)
Ende

Am Sonntag jährt sich Dinslakens größte Schande zum 75. Mal: Das Waisenkinder-Progrom vom 10. November 1938:

Am Morgen und Abend nach dem reichsweiten Juden-Pogrom von 1938, das die Nazis zynisch „Reichskristallnacht“ nannten, vollzogen sie hier, sozusagen verspätet, einen der wohl moralisch schlimmsten Übergriffe - an hilflosen jüdischen Waisenhaus-Kindern. Das ganze damalige Dinslaken schaute unbarmherzig zu.
Ein brutaler und bösartiger Übergriff gegen das hier für die Rheinprovinz einst an der Neustraße eingerichtete jüdische Waisenhaus mit seinen etwa drei Dutzend Kindern.

Keiner griff ein, als die Kinder gequält wurden

Sie wurden frühmorgens um Viertel vor Sechs noch ohne rechte Tageskleidung auf den Rutenwallweg getrieben und mußten zusehen, wie ihr Zuhause verwüstet wurde. Als „Judenzug“ mußten die älteren Kinder die jüngeren mehrfach auf einem Leiterwagen vor den Augen der gaffenden, aber nicht eingreifenden Bürger durch die Innenstadt ziehen und sich dabei als Juden bepöbeln und beschimpfen lassen. Zeitzeugen standen in mehreren Zuschauerreihen dicht darum herum, keiner griff ein.
Die Polizei, auch das Rathaus als städtische Ortspolizeibehörde verweigerte jede Hilfe. Das als Gebäude begehrte Waisenhaus wurde dann zur örtlichen NSDAP-Zentrale, die Kinder auf dem Umweg über eine rettende erste Unterbringung in Köln später nach Holland verbracht, es fehlt bis heute fast jede Spur.

Der 9. November 1938 war im ganzen Deutschen Reich der streng organisierte, angeblich „spontan“ als „Volkszorn“ sich entladende Tag und Abend, an dem die Synagogen durch SA-Leute geschändet und angezündet wurden, Polizei und Feuerwehr sahen zu und vermieden ein Übergreifen der Flammen auf die Nachbarschaft.

Der Tag ist als gezielter Auftakt der Entrechtung, Verfolgung und später industriell organisierten Vernichtung des Bevölkerungsteil jüdischen Glaubens weltweit bekannt. In Dinslaken sorgte die NS-Partei, allen voran einer ihrer, an der Berufsschule arbeitenden Eiferer, tags darauf für eine sonst nicht so gesehene unvorstellbare Steigerung.

Am Abend nochmal - wegen des „Erfolges“!

Und weil die Schmähung am Vormittag so ein „Publikumserfolg“ war, wurde der „Judenzug“ am Abend mit Kindern und (während der ebenfalls hier am 10. 11. „nachgeholten“ Synagogen-Brandstiftung zusammengetriebenen) Erwachsenen abends um 18.30 Uhr wiederholt, wieder mit dem Karren und wieder vor einer zuschauenden Menge am Straßenrand.

Die Stadt Dinslaken ist nun in der internationalen Geschichtsschreibung für immer mit diesen zuvor unvollstellbaren, grausamen Übergriffen am 10. November bekannter geworden als für irgendein sonstiges historisches Ereignis ihrer Geschichte. Auf örtlicher Ebene hat es erst etwa zwei Generationen nach diesem Tag der Schande, erstmals in den späten Achtzigern Versuche gegeben, das im Bewußtsein der Bevölkerung tief verankerte Geschehen schriftlich festzuhalten. Spätere Texte dazu von Adolf Kraßnig und Anne Prior finden sich in dem vor fünf Jahren von unserer Verlagsgruppe herausgegebenen Band „Nationalsozialismus in Dinslaken und seine Nachwirkungen“ (Klartext), der im Buchhandel erhältlich ist.

Das jüdische Waisenhaus für die Rheinprovinz

Das Dinslakener Israelitische Waisenhaus war von Spendern als Gegenstück zum westfälischen Paderborn für die Rheinprovinz 1885 in einem angekauften Patrizierhaus an der Neustraße 43 eingerichtet worden, das „kleine Landstädtchen“ dazu ausgesucht worden: zu Wohlstand gekommene jüdische Dinslakener waren damals oft als Viehhändler im Umfeld des Neumarktes tätig. Auch in schweren Zeiten flossen so die Spenden ausreichend.

Der Festschrift zum 50jährigen Bestehen 1935 ist anzumerken, dass der geschürte Antisemitismus schon begann, ein Auge auf das repräsentable und größte Haus seiner Umgebung zu werfen.

Nach dem II. Weltkrieg und seiner Bomben-Zerstörung kauften drei Bürger das Grundstück, ein Musikhaus und die Passage zum Rutenwallweg entstanden, davor dann erst 1985 ein Gedenkstein. 1993 wurde Alfred Grimms beeindruckendes Denkmal am Rande des Stadtparks, an den Büschen am Kreisverkehr errichtet.

Noch sind Zuschauer am Leben

Zum Jahrestag und zum stillen Gedenken genau 75 Jahre danach leben noch hochbetagte Zeugen unter uns, die damals als zuschauende Kinder mit am Straßenrand standen. Das wird nach menschlichem Ermessen in einem Vierteljahrhundert, wenn sich Dinslakens 10. November zum hundersten Male jährt, sicher nicht mehr der Fall sein. Irgendwann in dieser kommenden Zeitspanne stirbt, anonym geblieben wie alle anderen Zuschauer auch, der letzte lebende Zeuge des Geschehens, das Heinz Ingensiep als ehrenamtlicher Autor „Eine Stadt schaut zu“ benannt hat.

Seine Broschüre zur diesjährigen Museums-Ausstellung „Jüdisches Leben“ wurde, in der Hoffnung auf Behandlung im Schulunterricht, vor längerem an die weiterführenden Schulen der Stadt versandt. Sie ist auch im Museum Voswinckelshof und im Stadtarchiv für 5 € erhältlich.

„Jüdisches Leben“ im Museum Voswinckelshof

Die Ausstellung „Jüdisches Leben “ im Museum Voswinckelshof ist noch zu sehen: Schicksale jüdischer Dinslakener u.a. von Jeanette Wolff und Fred Spiegel, Filmdokumente, Interviews, computeranimierte Darstellungen des jüdischen Waisenhauses und der Synagoge geben Einblicke in die Zeit zwischen 1933 und 1980. Dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr.

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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