Vor 75 Jahren in Hagen:
Der tägliche Kampf ums Überleben

Ein Foto aus dem Jahr 1946 zeigt die bereits 1944 weitgehend zerstörte Johanniskirche und ihre unmittelbare Nachbarschaft. So oder noch schlimmer sah es im Mai 1945 überall in der Hagener Innenstadt aus. Die City wies einen Zerstörungsgrad von rund 100 Prozent auf. Foto: Sammlung Heimatbund
  • Ein Foto aus dem Jahr 1946 zeigt die bereits 1944 weitgehend zerstörte Johanniskirche und ihre unmittelbare Nachbarschaft. So oder noch schlimmer sah es im Mai 1945 überall in der Hagener Innenstadt aus. Die City wies einen Zerstörungsgrad von rund 100 Prozent auf. Foto: Sammlung Heimatbund
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Vor 75 Jahren: Hunger und Not sind allgegenwärtig Vor 75 Jahren, Anfang Mai 1945, war der von den Nazis verursachte Zweite Weltkrieg in Europa endlich zu Ende – mit zahllosen Opfern, unbeschreiblich viel Leid und schrecklichen Erlebnissen. Auch im stark zerstörten Hagen mussten die Überlebenden nun versuchen, irgendwie den Alltag zu organisieren. Hunger und schier unmenschliche Not waren allgegenwärtig.

Von Michael Eckhoff

In den ersten Tagen unmittelbar nach dem US-Einmarsch Mitte April 1945 kam es in mehreren Hagener Stadtteilen zu umfangreichen Plünderungen. Beteiligt waren daran sowohl Fremdarbeiter als in einem ganz erheblichen Maße auch Deutsche. „Dies hatte verheerende Folgen“, schreibt der Historiker Prof. Dr. Friedrich Keinemann in seinem 1997 erschienenen Buch „Hagen – eine Stadt kämpft um ihr Überleben“. Keinemann zitiert in seinem Buch Augenzeugenberichte, die besagen, „dass alles Mehl geplündert worden war“ und „es in der Stadt kein Brot mehr zu kaufen gab“.

Stielmus mit Mehl

Natürlich war zu diesem Zeitpunkt die Lebensmittelversorgung eh schon katastrophal, „vor allem“, so Keinemann, „für diejenigen, deren Wohnungen zerstört bzw. abgebrannt“ waren. Keinemann lässt in seinem Buch einen Augenzeugen zu Wort kommen, dessen Familie sich noch in einer halbwegs guten Situation befand, weil man eine größere Portion Stielmus besaß, „das man mit etwas Butterschmalz und Mehl zubereitet“ habe.
Bernhard Petersen, ein anderer Augenzeuge, schildert in seinem Tagebuch, am 21. April hätten etwa 1000 ausgemergelte und hungrige Menschen in einer Schlange von mindestens 100 Metern geduldig darauf gewartet, etwas Brot zu bekommen. Die folgende Woche, so führt Petersen weiter aus, sei „nur noch ein Kampf um das tägliche Brot“ gewesen. Auch die berühmte Hagener Bundestagsabgeordnete Liselotte Funcke bestätigt derartige Eindrücke. In ihrem Zeitzeugen-Beitrag „Hagener Impressionen“, 1985 erschienen in dem Buch „Mensch, der Krieg ist aus“, berichtet sie, „kilometerlange Wege und stundenlanges Anstehen für ein halbes Brot“ hätten die Tage gefüllt.

Nur zwei Schnitten

Ab Mai wurde die Essensbeschaffung wohl noch schwieriger. Laut Petersen hätten häufig gerademal zwei Schnitten Brot für den ganzen Tag zur Verfügung gestanden, „was aber diese trockene Schnitte Brot bedeutet, das kann kein Nachfahre ermessen, der nicht in eine ähnliche Lage kommt.“ Und am 7. Juni schrieb Petersen in sein Tagebuch: „Für alle, die wir da sind, ist das Leben eine schwere Bürde und nur noch ein Kampf, um über diese unendlich schwere Zeit hinwegzukommen.“
Die Briten als Besatzungsmacht in Westfalen, in Hagen in den ersten Monaten kommandiert von Major Peter Alexander, versuchten zwar, die Verwaltungsbehörden überall wieder zu installieren und Lebensmittelkarten ausgeben zu lassen, aber es dauerte sehr, sehr lange, bis tatsächlich eine grundlegende Besserung eintrat. So blieben die meisten Menschen in den nächsten Monaten nicht nur stark unterernährt, sondern sie waren auch aufgrund der mangelnden Ernährung kaum in der Lage, die eigentlich notwendige Energie für die Aufräumarbeiten aufzubringen. Schließlich darf man nicht vergessen, dass sich allein in der Hagener Innenstadt über zwei Millionen Kubikmeter an Trümmerschrott auftürmten und dass für deren Beseitigung eigentlich jede helfende Hand benötigt wurde. Alles in allem zog sich die schreckliche Hungerzeit bis 1948 hin.
Keinemann fasst die Situation in Bezug auf die zweite Hälfte des Jahres 1945 so zusammen: „Die Stellen der Landesernährungsverwaltung versuchten zwar, ein gewisses Maß an Zuteilung sicherzustellen; doch letztlich waren die Städte, Kreise und Gemeinden und darüber hinaus jede einzelne Familie mehr oder weniger auf sich gestellt. Improvisation und Selbsthilfe waren mehr denn je an der Tagesordnung, und auch von den für Ernährung verantwortlichen Beamten und sonstigen Mitarbeitern der Stadt Hagen war eher Management und Ideenreichtum gefragt als reine Verwaltung.“
Mehrere Verantwortliche besaßen zum Glück in dieser Zeit der Not herausragende Fähigkeiten. Keinemann rückt insbesondere die Verdienste des Lebensmittelgroßhändlers Hans Kramer in den Fokus. Er war als Bevollmächtigter der Stadtverwaltung dafür zuständig, Nahrung aufzutreiben, so gut es ging. Er führte diese Tätigkeit rein ehrenamtlich aus. Andere Verantwortliche, die in dieser Zeit wohl außerordentlich viel zu bewirken vermochten, waren auch der von den Briten im Rathaus eingesetzte Verwaltungschef Ewald Sasse und der für das Ernährungs- und Wirtschaftsdezernat zuständige Stadtrat Dr. Karl Guttmann. Von Keinemann wird Guttmann als ein „Liberaler alter Prägung“ dargestellt, „hervorgegangen aus der Verwaltungsschule des legendären Hagener Oberbürgermeisters Cuno“. Guttmann hatte schon in der Ära der Weimarer Republik in Hagen als Beigeordneter gewirkt - als Wohlfahrtsdezernent. 1932 hatte ihn die Stadt Schwerte zum Bürgermeister gewählt. Wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtergreifung musste er diesen Posten räumen. Im Mai 1945 übertrugen die Briten ihm, der 1933 rasch in die NSDAP eingetreten war, um im Bürgermeister-Amt bleiben zu können, das wichtigste Dezernentenamt in Hagen.
Unsere nächste Folge zum Ende des Krieges in Hagen folgt am kommenden Mittwoch. Ein Foto aus dem Jahr 1946 zeigt die bereits 1944 weitgehend zerstörte Johanniskirche und ihre unmittelbare Nachbarschaft. So oder noch schlimmer sah es im Mai 1945 überall in der Hagener Innenstadt aus. Die City wies einen Zerstörungsgrad von rund 100 Prozent auf. Foto: Sammlung Heimatbund

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