Umstrittenes Bauvorhaben in Lippramsdorf
„Weiter so“ beim Flächenverbrauch in Haltern für private Bauprojekte am grünen Ortsrand ?

Foto: NABU

HALTERN AM SEE. Wieder einmal opfert die Stadt Haltern wertvolle Weideflächen und Ackerböden am Ortsrand in direkter Nachbarschaft zu einem angrenzenden Landschaftsschutzgebiet für eine Ausweitung der Wohnbebauung. Der Umfang von 15 geplanten freistehenden Einzelhäusern und einem Mehrfamilienhaus am dörflichen Ortsteil Lippramsdorf ließe sich mit gutem Willen alternativ auch im Innenbereich in Baulücken verteilt im Stadtgebiet unterbringen. Doch die privaten Vermarktungsinteressen des Grundbesitzers und eines etablierten Halterner Bauunternehmers für dieses lukrative Projekt an der Birkenallee/Stighthaube überwiegen offenbar das öffentliche Interesse am notwendigen Freiflächenschutz.

Nach vierjährigem Ringen um dieses bei Anwohnern und Landschafts- und Naturschützern umstrittene Vorhaben will die Stadt das von ihr verteidigte Vorhaben am 18. November im Stadtentwicklungsausschuss nun endlich absegnen lassen und kann sich dabei einer breiten Ratsmehrheit gewiss sein. Ein nachhaltiges Umdenken findet in Haltern offensichtlich nicht statt, weil die bauliche Erschließung landwirtschaftlicher Flächen schneller und einfacher umzusetzen ist als die mühsamere, aber flächensparende Innenentwicklung. Private Rendite-Interessen werden mit öffentlichem Interesse der Grundstücks- und Wohnungsversorgung gleichgesetzt.

Obwohl wegen des Arten- und Klimaschutzes der dazu notwendige Freiflächenschutz das Gebot der Stunde ist, wird auf kommunaler Ebene einfach ein „Weiter so“ beim Flächenverbrauch betrieben -  mit stets wohlfeilen Argumenten für die einzelnen Bauvorhaben und die angebliche „Alternativlosigkeit“ der Standorte. Das insbesondere für die flächenverbrauchenden Kommunen vorgegebene verbindliche Nachhaltigkeitsziel von EU, Bund und Land, bis 2030 den Flächenverbrauch für Siedlungszwecke zu halbieren und das Verhältnis von Innenentwicklung zur Außenentwicklung auf 3:1 umzusteuern, wird einfach ignoriert. Die Landschaftszersiedelung schreitet ungebremst voran.

Damit ist absehbar, dass die Nachhaltigkeitsziele zur Begrenzung des Flächenfraßes in dieser Stadt verfehlt werden. Denn auch die nächsten anstehenden Bauprojekte in den einzelnen Ortsteilen sind auf landwirtschaftlichen Flächen an den Ortsrändern geplant, so dass sich die Stadt mit ihren Siedungsflächen in Jahresringen in die freie Landschaft hineinfrisst, obwohl die Prognosen einen Bevölkerungsrückgang vorausberechnen. Gerne verwendet man für die ausufernde Ortsrandbebauung den Begriff der baulichen "Abrundung" der Ortsteile und Siedlungen, das klingt geschmeidiger für die folgenschweren Eingriffe in die Landschaft.

Bedarfsgerechtes Bauprojekt?

Als einzigen „Bedarfsnachweis“ für das umstrittene Bauvorhaben in Lippramsdorf führt die Stadt „die hohe Nachfrage nach Baugrundstücken von Bauwilligen bei den Bauunternehmen und bei der Stadt“ an, deren Wünsche man bedienen wolle, insbesondere von „jungen Ortsansässigen“. Ob dieses beliebte Standardargument für alle Bauvorhaben im Stadtgebiet anschließend einer Überprüfung standhält, darf bezweifelt werden. Verifizierbare Bedarfsanalysen hat die Stadt nicht vorzuweisen. Denn mehr als ein Drittel aller Häuser und Wohnungen in Haltern dienen nachweislich nicht der Eigennutzung, sondern als bloße Kapitalanlage für Investoren. Und die in Haltern exorbitanten Grundstücks- und Mietpreise für die Neubauten können sich die wenigsten „ortsansässigen jungen Familien“ überhaupt leisten, so dass wieder einmal mit der ausufernden Eigenheimpolitik allein auf bestimmte zahlungskräftige Einkommensschichten abgezielt wird.

Die mindestens ebenso große Nachfrage nach bezahlbaren und öffentlich geförderten Mietwohnungen in Haltern, deren Angebot gegen Null tendiert, wird unter den Tisch gekehrt und nicht gleichermaßen bedient. Die Betroffenen wenden sich auch nicht etwa an die marktbeherrschenden Bauunternehmer in der Stadt, sondern verlassen gezwungenermaßen ihre Heimatstadt in Richtung Nachbarstädte, wo eine sozial ausgewogenere Wohnungsbaupolitik betrieben wird. Auch der Sanierungsstau für die 60% Altbauten im Stadtgebiet Haltern reizt die Investoren und Bauunternehmen als Herausforderung offenbar kaum, solange ihnen das lukrativere Geschäft mit den Neubauten für die gehobenen Ansprüche in den attraktiven grünen Ortsrandlagen mit den leicht zugänglichen Grundstücken offensteht.

Fake News statt Fakten?

Zu den weiteren fragwürdigen Argumenten der Stadt für die ausschließlich gehobene Eigenheimbebauung an den grünen Ortsrändern gehört die gebetsmühlenartig wiederholte, aber mit Fakten widerlegbare marktgläubige Behauptung, die seit Jahren rasant steigenden Grundstückspreise in Haltern könnten durch immer weitere Flächenangebote abgemildert werden. Doch der spekulative Immobilienmarkt mit der „Goldgräberstimmung“ in Haltern am See funktioniert nicht nach den allgemeinen Marktgesetzen, wie auch die zurückliegende Entwicklung seit Jahrzehnten trotz stetig wachsender Bauflächenangebote belegt. Damit werden allenfalls immer mehr Begehrlichkeiten von außerhalb für den nachgefragten Standort Haltern geweckt mit dem Effekt einer Spirale von immer weiteren Verteuerungen.

Ebenso zu hinterfragen ist das Nebenargument der Stadt, mit der Einfamilienhaus-Bebauung im Grünen würde die Infrastruktur im zweitgrößten Ortsteil Lippramsdorf gesichert – obwohl diese gar nicht gefährdet war und ist. Ein Dorfentwicklungskonzept für Lippramsdorf als Nachweis existiert gar nicht und ein durchgeführtes „Ortsteilforum“ mit großer Beteiligung der Dorfbevölkerung wurde wegen der vielen wertvollen Anregungen der Bürgerschaft mit dem „Argument“ des Baudezernenten abgewertet, es handele sich nicht um ein „Wunschkonzert“. Schon gar nicht erwünscht sind Argumente und Unterschriftensammlungen kritischer Bürger wie im Ortsteiln Sythen, die sich jüngst gegen die Bebauung eines kleinen wertvollen Wäldchens (im bloßen Interesse eines einflussreichen Maklers) vergeblich wehrten. Auch hier stellte sich die Stadt bedingungslos auf die Seite der Investoren statt auf die Seite der Bürger.

Flächenverlust ist nicht kompensierbar

Die Stadt argumentiert beim neuen Bauvorhaben in Lippramsdorf, dass durch den von der Landschaftsbehörde abverlangten Grüngürtel von 5 m Breite mit Abpflanzungen - als Kompensationsmaßnahme für den ökologisch schädlichen Eingriff - der Nachhaltigkeit genüge getan sei. Sie verkennt dabei, dass der eigentliche Flächenverlust von 1,5 ha damit keineswegs ausgeglichen ist, denn Flächen sind endlich und nicht vermehrbar, und Jahr für Jahr addieren sich die verbauten Freiflächen im Stadtgebiet zu einem unverträglichen Flächenverbrauch und unwiederbringlichen Landschaftverlust. Hierbei interessiert sich die Stadt auch nicht so sehr für die übergeordneten gesetzlichen und planerischen Vorgaben der Bundes- und Landesebene für den Freiflächenschutz, seit dem legendären Spruch des Ex-Bürgermeisters: „Wir brauchen keine planerischen Vorgaben von oben; wir wissen selber in Haltern, was für unsere Stadt sinnvoll ist.“

Gesetzeskonforme Planung?

Die vorliegende Planung erscheint insofern nicht gesetzeskonform, als die rechtlichen Vorgaben durch unzureichende Abwägung und Begründung in der Planungspraxis und mangels Alternativplanungen nicht ernst genommen werden: Das Bundesraumordnungsgesetz schreibt nämlich im § 2 (2) eine Begrenzung der Flächeninanspruchnahme im Freiraum vor, um die Funktionsfähigkeit der Böden zu sichern. Insbesondere die erstmalige Inanspruchnahme unversiegelter Freiflächen ist zu verringern, durch vorrangige Maßnahmen der Innenentwicklung und Nachverdichtung. Daraus abgeleitet sieht auch das Baugesetzbuch im § 1(5) vor, dass die städtebauliche Entwicklung vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung erfolgen soll.

Die neue Bodenschutzklausel im § 1a(2) schreibt den sparsamen und schonenden Umgang mit Grund und Boden vor. Die zusätzliche Inanspruchnahme von Freiflächen für bauliche Nutzungen soll verringert statt weiter ausgedehnt werden. Und die Notwendigkeit der Umwandlung landwirtschaftlicher Flächen soll begründet werden. Eine solche überzeugende Begründung fehlt jedoch für diesen Bebauungsplan. Auf diese grundsätzlichen Abwägungsfragen geht auch der beigefügte Umweltbericht nicht näher ein. Angeblich gäbe es keine anderen geeigneten Flächen und damit keine Alternativen.

Landesentwicklungsplan und Regionalplan verlangen Freiraum- und Bodenschutz

Auch der aktuelle gültige Landesentwicklungsplan NRW verpflichtet die kommunalen Träger der Bauleitplanung, im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes auf eine flächensparende kompakte Siedlungsentwicklung mit der geringstmöglichen Inanspruchnahme des Freiraumes hinzuwirken. Deshalb strebt der Landesentwicklungsplan den Erhalt und die Entwicklung des Freiraumes sowie den Bodenschutz an. Der Freiraum ist grundsätzlich zu erhalten und seine ökologische, soziale und wirtschaftliche Bedeutung entsprechend zu sichern. Der Freiraumschutz hat wesentlichen Einfluss auf das Klimageschehen, so dass sich die Siedlungsentwicklung der Gemeinden innerhalb der regionalplanerisch festgelegten Siedlungsbereiche vollziehen soll. Der Bebauungsplan geht jedoch darüber hinaus.

Auch der Regionalplan schreibt eine flächensparende und nachhaltige, kompakte Siedungsentwicklung vor und verpflichtet die Träger der Bauleitplanung, Bodenversiegelungen zu begrenzen. Unter aktivem Flächenschutz versteht der Regionalplan flächensparendes Bauen durch Aktivierung von Baulücken mit Vorrang der Innenentwicklung bei gleichzeitiger Entsiegelung und Rekultivierung von Flächen sowie vorsorgendem Bodenschutz, indem die Funktionsfähigkeit der Böden erhalten und der Freiraum geschont bleibt. Vor allem sollen landwirtschaftliche Flächen als wesentliche Produktionsgrundlage mit ihrer hohen Wertigkeit erhalten bleiben und vor dem Zugriff durch andere Nutzungen geschützt werden (unabhängig von etwaigen Verkaufsinteressen der Landwirte, die sich auf die „vierte Fruchtfolge“ freuen…).

Bundesnaturschutzgesetz und Bodenschutzgesetz ernst nehmen

Das Bundesnaturschutzgesetz schreibt im § 1 (2) bis (6) ebenfalls die Erhaltung landwirtschaftlicher Böden zur Erfüllung ihrer Funktionen im Naturhaushalt vor. Insbesondere Freiräume im siedlungsnahen Bereich sind zu erhalten und gewachsene Kultur- und Naturlandschaften vor Zersiedelungen und Beeinträchtigungen zu bewahren. Nicht zuletzt das Bodenschutzgesetz schreibt in §§ 1 und 2 die nachhaltige Sicherung der Funktionen des Bodens und die Vermeidung der Beeinträchtigung seiner natürlichen Funktionen vor. Unbebaute Bereiche sind deshalb zu erhalten. Laut Landesnaturschutzgesetz sind die Entwicklungsziele für die Landschaft bei allen behördlichen Planungsmaßnahmen zu berücksichtigen. Auch darauf geht die Planbegründung nicht näher ein.

Das NRW-Umweltministerium weist zudem in seinem Flächenportal darauf hin, dass die Planungshoheit der Gemeinden eine besondere Verpflichtung für den Flächen- und Bodenschutz beinhaltet. Deshalb ist das hier in Rede stehende (relativ kleine) Baugebiet in Lippramsdorf als ein Teilprojekt der Stadtentwicklung nicht isoliert zu betrachten, sondern im Kontext der übrigen Bebauungspläne im Stadtgebiet, die derzeit für weitere Wohnbau und Gewerbevorhaben an den Stadträndern mit vorgesehenem Freiflächenverbrauch in Vorbereitung sind (Hullern-Buttstraße, Lavesum-Schafstall, Haltern-Nesberg, Gewerbegebiet Görtzhof, Bossendorf Schulte Hülsen etc.). In ihrer Gesamtheit und im Zusammenwirken stehen sie den Nachhaltigkeitszielen zum Flächenschutz jeweils entgegen. Es addiert sich der Flächenverbrauch insgesamt und es kumulieren sich die nachteiligen Folgen.

Lokaler Egoismus und Fehlplanungen haben weltweite Klimafolgen

Zwar ist das relativ kleine Baugebiet von 1,5 ha in der Lippramsdorfer Landschaft nicht „der Klimakiller“ – aber wenn bundesweit 11.000 Städte und Gemeinden eine ähnliche Planungspolitik betreiben würden und europaweit und weltweit Hunderttausende Kommunen so vorgehen, dann ist der Flächenverlust und Klimaschaden in der Summe immens und das Artensterben schreitet noch dramatischer voran. Deshalb ist lokaler Egoismus beim Landschaftverbrauch weder in Haltern noch anderswo angebracht, sondern ein verantwortungsbewusster Umgang mit den natürlichen Ressourcen an jedem Ort und bei jedem Einzelvorhaben angesagt, mit weitsichtigem Blick über den Tellerrand zur "Bewahrung der Schöpfung", wie es die christliche Volkspartei sogar in ihrem Programm verankert hat.

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

Webseite von Wilhelm Neurohr
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