Flucht und Vertreibung: Russlanddeutsche hatten oft ein schweres Schicksal

Das Foto stammt aus dem Jahr 1992, als die Familie nach Deutschland übersiedelte. Foto: Privat
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Für den Asylkreis Haltern am See hat die Flucht inzwischen viele sehr unterschiedliche Gesichter bekommen. Einige stellen wir in dieser Serie vor: Auch das Schicksal vieler Russlanddeutscher ist von Flucht und Vertreibung geprägt. Emma, 45 Jahre, erzählt die Geschichte ihres Vaters Egon. Der heute 80-jährige hat während des Zweiten Weltkrieges sehr gelitten. 


"Unsere Vorfahren sind vor 300 Jahren aus Baden-Württemberg in die Ukraine ausgewandert. 1916 zogen sie nach der Revolution wegen Hungers an die Wolga. Dort wurde die Wolgadeutsche Republik gegründet. Die Amtssprache war natürlich Deutsch. Mein Vater wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren.  Aus Angst, dass sich die Wolgadeutschen auf Hitlers Seite schlagen, ließ Stalin 1941 alle ausländischen Nationalitäten in den Kaukasus verschleppen, um sie möglichst weit weg von der deutschen Grenze zu bringen. Männer und Frauen wurden in Lager nach Sibirien deportiert, wo sie unter schlimmsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Mein Opa wurde auch verschleppt, er ist wie viele andere verschollen. Papas damals 16 Jahre alte Schwester musste bei - 60 °C Bäume fällen. Meine Oma ist mit den vier kleineren Kindern in die Steppe nach Kasachstan verschleppt worden. Zeit, etwas zu packen, ließ man ihr nicht. In den Zügen sind viele gestorben, weil die Not so groß war. Die Toten legten sie neben den Gleisen ab, ohne eine Möglichkeit, sie zu beerdigen.

Die Toten legten sie neben den Gleisen ab, ohne eine Möglichkeit, sie zu beerdigen

Die Kasachen haben nicht verstanden, wer da kommt. Eine Verständigung war nicht möglich. Die Kasachen sprachen nur Kasachisch, die Deutschen nur Deutsch. Sie dachten, es kommen Feinde. Meiner Oma wurde mit den Kindern ein zugiger Viehstall zugewiesen. Im ersten Winter starben viele Leute. Mein Papa hat oft erzählt, dass es manchmal bis zu fünf Tage gedauert hat, bis es ein Krümelchen zu essen gab. Irgendwann rief seine Mutter die Kinder zusammen und sagte: „Es ist wohl das Ende gekommen. Jetzt müssen wir hier sterben.“ – Das zu erzählen fällt mir schwer. Ich bin mit der Geschichte aufgewachsen, ich weiß, was passiert ist. Aber wenn man selbst Mutter ist, dann ist alles so real. Die deutschen Frauen in Kasachstan mussten ihre Kinder an kasachische Familien abgeben, damit sie diese dort arbeiten und so überleben konnten. Mein Vater wurde von einem kinderlosen Paar aufgenommen. Mit vier Jahren musste er schon arbeiten. Er bekam nie genug zu essen. Auch als meine Oma Jahre später wieder mit ihren Kindern zusammenleben konnte, bestimmte schwerste Arbeit und größte Not ihr Leben.

Deutsche wurden ausgegrenzt und misshandelt.

Nach dem Krieg wurde es besser. Papa hat sich große Mühe gegeben, er ging zur Bundeswehr, machte eine Installateurausbildung. Er zog zurück zur Mutter, lernte parallel zur Arbeit weiter, wurde Berufsschullehrer. Alle Kinder halfen mit, die Mutter zu ernähren. Weil sie deutsch war, wurde nie erfasst, wie viel sie gearbeitet hat. Deshalb bekam sie nie eine Rente. Meine Oma hat von der Unterstützung ihrer Kinder gelebt. Bis 1956 gab es für die Deutschen auch keine Möglichkeit medizinische Behandlung zu erhalten oder auszureisen.
Meine Oma und die Kinder zogen in ein anderes Dorf, schließlich in eine Stadt. Sie haben ein besseres Leben gesucht, ein Häuschen gebaut. Papa hat einen Job gefunden und meine Mama geheiratet, die Lehrerin war.
Als die Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre zerfiel und die Inflation die Wirtschaft herunterzog, kam es zu Spannungen zwischen den Nationalitäten. Deutsche wurden ausgegrenzt und misshandelt. Oft ist meine Mutter mehrere Stunden für Lebensmittel angestanden und bekam dann nichts, weil sie Deutsche war. Wir wurden ausgelacht. Lappalien wurden zu Problemen. Wir wussten nicht mehr, wie wir leben sollten.
Schließlich sind wir 1992 nach Deutschland gekommen.
Der Anfang war sehr schwer. Aber nette Leute haben uns geholfen. Mein Vater reagiert empfindlich darauf, wenn er von Deutschen auf Russisch angesprochen wird. Von den Füßen bis zu den Ohren fühlt er sich als Deutscher. Wir reden auch nur Deutsch, er sogar mit dem schwäbischen Dialekt unserer Vorfahren. Ich war 20 Jahre alt, als ich nach Deutschland kam. Da hatte ich bereits drei Jahre Studium hinter mir. Als junge Frau verstand ich so gerade, wie das Leben lief und dann wurde alles auf den Kopf gestellt.

Die Ausstellungen mit 19 Gesichtern einer Flucht werden vom 23.03. – 12.04. in Goldenstedt und vom 23.03. – 24.04. in der Stadtbücherei Haltern am See gezeigt, Eröffnung und Feier „Zwei Jahre ‚Schau mich an – Gesicht einer Flucht‘“ am 23.03. um 19 Uhr. Alle Portraits und Termine für die Ausstellung auf www.gesicht-einer-flucht.de. Protokoll: Gerburgis Sommer


Autor:

Gerburgis Sommer aus Haltern

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