BUCH DER WOCHE: Dekorateure des Nichts

Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel. Roman. Rowohlt Verlag. Reinbek 2012, 266 Seiten, 19,95 Euro

„Es ist erstaunlich, ja sogar ein wenig bewundernswert, mit welch einer künstlerischen Ausdauer und kreativen Energie Martin Walser immer noch in regelmäßigen Intervallen und auf nicht absinkendem Niveau publiziert und uns dabei immer wieder zu überraschen versteht. Und das nach fast 60 Jahren Schriftstellerei in einem Alter von heute 85 Jahren.

„Vor zwanzig Jahren hätte ich so ein Buch überhaupt nicht schreiben wollen und auch nicht schreiben können“, bekannte Martin Walser im letzten Jahr nach Erscheinen seines Romans „Muttersohn“ ganz offen in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ und räumte damit (zumindest unterschwellig) auch ein, dass es in den letzten Jahren Veränderungen in seiner Art des Schreibens gegeben habe.
Walser hat immer polarisiert, ob mit seinen Büchern oder mit seinen politischen Äußerungen. Am Großschriftsteller vom Bodensee haben sich stets die Geister geschieden, auch deswegen, weil sich Walser über all die Jahre hinweg in keine Schublade pressen ließ, weder künstlerisch noch politisch. Er ist sich seit den 1950er Jahren in seiner (Ver)-Wandelbarkeit immer treu geblieben, und genau das macht ihn auch künstlerisch unberechenbar.
Walsers Experimentierfreude scheint keine Grenze zu kennen. Jetzt legt er uns einen Roman vor, dessen überwiegender Teil aus Briefen besteht und der somit (im konventionellen Sinn) beinahe handlungslos ist. Diese Korrespondenz liest sich seltsam altmodisch, aber dahinter verbirgt sich ein sorgsam komponiertes, stilistisch geschliffenes Gedankenspiel über Möglichkeiten, Grenzerkundungen und vorsichtige Tabubrüche.
Der Schriftsteller Basil Schlupp (Autor des Bestsellers „Strandhafer“) und die promovierte Theologin Maja Schneilin lernen sich auf einem Empfang des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue kennen. Diese Feierlichkeit wird zu Ehren von Majas Mann, einem international renommierten Hirnforscher namens Korbinian, ausgerichtet. Auch Basils Ehefrau, die ebenfalls als Schriftstellerin tätige Iris, wohnt dem Bankett bei.
„Ihr sah keine Frau gleich. Sie sah keiner Frau gleich. Ihr Gesicht war also einzigartig...In mir war ein Selbstgespräch im Gang, das dieser Frau da drüben gewidmet war“, erfahren wir retrospektiv von Basil über seine erste Begegnung mit Maja.
Unter einem ziemlich platten Vorwand beginnt Basil (schüchtern wie ein Teenager, aber eben piekfein formuliert) die Korrespondenz mit Maja, einer leidenschaftlichen Anhängerin des Theologen Karl Barth.
Das Startzeichen für eine bilaterale Gedanken- und Gefühlseruption in schriftlicher Form. Die Intervalle zwischen den Briefen, die mehr und mehr an Vertraulichkeit gewinnen, werden rasch kürzer. Kleine Geheimnisse werden aneinander anvertraut, der Tonfall changiert zwischen Höflichkeit, Respekt und zart angedeuteten Schmeicheleien. Martin Walser entpuppt sich hier tatsächlich als Meister dieser sprachlich-altbackenen Galanterie.
Beide scheinen ein Stückchen Freiheit für sich entdecken zu wollen, ein wenig Grenzerkundung zu betreiben, sind sich dabei aber stets im Klaren darüber, dass ihr Tun moralisch fragwürdig ist, da sie sich beide in intakten Partnerschaften wähnen und sich dies auch in der Korrespondenz gegenseitig versichern.
„Wenn unsere zwei Nächsten so weit sind, dass wir‘s ihnen sagen können, machen wir einen größeren Abend und feiern den Verrat“, schreibt Maja in einem Brief an Basil. Apropos Verrat: Basil betreibt sogar doppelten Verrat, indem er aus dem im Entstehen befindlichen Buch (Arbeitstitel: „Das dreizehnte Kapitel“) seiner Ehefrau Iris zitiert, aus dem er sich auf Zetteln Passagen abgeschrieben hatte. So auch die herrlich schräge Formulierung „Jeder Satz, der mit ich beginnt, leidet an Enge und Atemnot.“
Basils Ehefrau Iris ist die deutlich blassere der beiden Partner-Figuren. Weniger schrill, weniger spektakulär, weniger extrem als der mit internationalen Preisen ausgezeichnete Hirnforscher Korbinian, der der Wissenschaft schließlich abschwört, der Versuchung des großen Geldes erliegt, aber damit nicht glücklich wird und später überdies (hoffentlich ist dies nicht allegorisch als Strafe für seine Abkehr vom reinen Weg der Wissenschaft gedacht) an einem bösartigen Tumor erkrankt.
Die Korrespondenz entwickelt sich zur emotionalen Achterbahnfahrt. Irgendwann bezichtigt Maja Basil der Lüge und des Gefühlsverrats, die gegenseitigen Sympathiewerte sinken wieder. Höhen und Tiefen einer normalen Partnerschaft ziehen sich wie ein roter Faden auch durch diese platonische Beziehung, über die Maja sagte: „Tatsächlich glaube ich an unsere Unschuld.“
Es ist ein Spiel mit den (Un)-Möglichkeiten, - immer wieder (manchmal wirkt es arg aufgesetzt) wird der Philosoph Karl Barth rauf und runter interpretiert und zitiert. Ein Satz aus den Barth-Briefen bringt allerdings Walsers Brief-Roman und auch das ambivalente Verhältnis zwischen den Protagonisten, die in ihren „alten“ Beziehungen doch hängen geblieben sind, treffend auf den Punkt: „Die Ermöglichung des Unmöglichen, das auch als Ermöglichtes unmöglich bleibt“.
Am Ende stehen unerfüllte Sehnsüchte und verletzte Eitelkeiten, aber auch viele gewonnene (schmerzliche) Erkenntnisse zweier Individuen, die sich im Balancieren mit Wörtern und dem feinen Austarieren ihrer Gedanken in ihren Professionen als Theologin und Schriftsteller, als „Dekorateure des Nichts“ (wie es Basil formulierte) vielleicht zu ähnlich waren. Ein wunderbar unkonventionelles, ein anstrengendes, aber nicht ermüdendes, ein aufwühlendes, aber nicht deprimierendes Buch. Ein durch und durch walser-typischer Roman, und da sollte diese spielerische Referenz an den Autor gestattet sein: „Das dreizehnte Kapitel“ ist eine große „Seelenarbeit“ - „jenseits der Liebe“.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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