Brief an Frau Ministerin Sylvia Löhrmann

Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW
z. Hd. Frau Ministerin Sylvia Löhrmann
Völklinger Str. 49

40 221 Düsseldorf

Betreff: Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz)
URL: http://pf.pic-develop.de/pdfs/9_SchrAeG-1.pdf

Sehr geehrte Frau Ministerin Löhrmann,

als selbst mit einer Behinderung – und dieselbe ist die Folge eines schweren Schädel-Hirntraumas nach Straßenverkehrsunfall, im Alter von 12 Jahren, vom 28. Februar 1982 – Lebender und beide Förderorte, nämlich den Förderort allgemeine Schule (Klasse 1 bis 7 und Jahrgangsstufe 11/I) und den Förderort För­derschule (Klasse 8 bis zum Abitur), Kennender, erlaube ich mir das Erste Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz) an einigen wesentli­chen Stellen zu kritisieren. Ich tue dies als Mensch mit einer nun lebenslänglichen Behinderung und somit als Experte in eigener Sache, der ich über eine erlebte Kompetenz verfüge.
Die Inklusion in Schulen darf nicht zu zieldifferentem Unterricht führen. Zieldifferenz, d. h. die Vergabe von Abschlüssen nach §19 Absatz 4 würde letztlich wieder eine Separierung bedeuten. Zieldifferenz wird auch nicht in Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention erwähnt, wie fälschlicherweise gleich zu Be­ginn des Beschluss' der KMK vom 18.11.2010 – und hier mit Verweis auf den ersten Absatz – behauptet. In Artikel 24 Absatz 1 geht es um das Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancen­gleichheit lebenslänglich Bildung zu erfahren. Ein zieldifferenter Unterricht würde m. E. diskriminieren und ein derartiger Unterricht basiert auf Chancenlosigkeit. Zieldifferenter Unterricht kann aber auch be­deuten – und das tut es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dann auch –, dass die Inklusion in bestimmten Unterrichtsstunden gebrochen wird, um so die behinderten Schülerinnen und Schüler von den anderen zu trennen und ihnen ein förder- oder sonderpädagogisches Angebot zu machen. Nur so ist Zieldifferenz zu begründen und zu realisieren. Anderenfalls könnten die angeblich sonderpädagogische Förderung beanspruchenden Schülerinnen und Schüler mit den Schülerinnen und Schüler, die keine son­derpädagogischen Förderbedarfe haben, gemeinsam und zielgleich unterrichtet werden. Zieldifferenz geht nicht mit der Behindertenrechtskonvention konform.

Problematisch empfinde ich die Einrichtung von Schwerpunktschulen. Derartige Schulen ufern dann ge­wissermaßen in ein Sammelbecken für sonderpädagogische Förderung bedürfende Schülerinnen und Schüler aus, die den hiervon Betroffenen dann nicht unbedingt eine gesellschaftliche Inklusion in ihr Wohnumfeld gewährleistet. Isolation am Wohnort, im Quartier, ist dann die unvermeidbare Folge.

Erfreulicherweise ist §19 Absatz 7 Satz 2 ein wenig relativiert worden, indem hier von Ausnahmefällen gesprochen wird. Ausnahmefälle treten nämlich dann ein, wenn die Behinderung im Schullebenslauf nach der Klasse 6 erworben wird, da die meisten Behinderungen sind nicht planbar. Planbare Behinderungen sind die gravierenden Folgen eines Selbstmordversuchs.

Problematisch finde ich die äußere Differenzierung. Differenzierung bezeichnet das Entstehen von Unter­schieden. Differenzierung ist die Ausgliederung unterschiedlicher Teile aus einem einheitlichen Ganzen. Hierbei sind die ausgegliederten Teile mehr oder minder selbstständig und mit eigener Funktion ausge­stattet. Entwicklungspsychologisch gesehen besteht ein Zusammenhang zwischen Entwicklung und Dif­ferenzierung. Entwicklung ermöglicht eine immer höhere Differenzierung. Gefährlich wird die Differen­zierung im Rahmen der Inklusiven Pädagogik aber dann, wenn sie als extreme Differenzierung, die auf Inklusion verzichtet, zur Entformung und zum Zerfall führt. Demgegenüber folgt eine zu starke Speziali­sierung zur Erstarrung, was eine entwicklungshinderliche Sackgasse zur Folge hat.
Eine hohe Bedeutung für das Lernen und die Entwicklung kommt der Zone der nächsten Entwicklung zu. Die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes vollzieht sich in der Phase der nächsten Entwicklung über die Zusammenarbeit mit anderen Menschen. In der Zone der nächsten Entwicklung findet eine Synthese von Nachahmung und Zusammenarbeit mit anderen statt. Die Zone der nächsten Entwicklung wird wei­terhin durch die Beziehung des Kindes zu seiner Umwelt bestimmt.
Entwicklungslogische Didaktik und Differenzierung sind die zentralen Bestandteile einer Inklusiven Päd­agogik. Diese didaktischen Momente richten sich auf alle Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsniveaus und sie schließen kein Kind aus.
An einem gemeinsamen Lerngegenstand festhaltend wird die innere Differenzierung durch Individuali­sierung praktiziert. Der gemeinsame Lerngegenstand ist „der zentrale Prozess, der hinter den Dingen und beobachtbaren Entscheidungen steht und diese hervorbringt“ (FEUSER 1995, 181). Indem der wechsel­seitige Austausch der Kinder mit ihrer jeweiligen Lern- und Lebensumwelt und die Tätigkeitsstuktur ei­nes jeden Kindes analysiert wird, wird man der Entwicklungslogik gerecht.
„Die äußere Differenzierung orientiert sich hauptsächlich an den Leistungen der SchülerInnen, die dann beispielsweise zu der Zuordnung zu den Schulformen, Kursen oder Niveaugruppen führt“ (WOLLENWEBER 2012). Bei der äußeren Differenzierung dürften Schülerinnen und Schüler mit Behin­derung oft ausgeschlossen werden.

Die Einrichtung eines Unterstützungszentrums halte ich für problematisch, da es sich um einen befristeten Ausschluss der sonderpädagogische Unterstützung im Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Ent­wicklung Bedürfenden handelt. Dieser befristete Ausschluss kann schlimmstenfalls durch diese, im Na­men der Inklusion erfolgte, Ausschließung einen permanenten Ausschluss zur Folge haben, der dann zwangsläufig in eine Isolation mündet.

M. E. müssen in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung bereits an der Universität auch für die allgemei­nen Lehrämter behindertenspezifische Module studiert werden, die die Studierenden auf die Inklusion vorbereiten und sie dann für die Inklusion befähigen, denn seit März 2009 ist die Inklusion in der Bundes­republik Deutschland rechtsverbindlich (vgl. BIELEFELDT 2012).

Für die Inklusion öffnen müssen sich – und ich denke hier an die Schulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und mötorische Entwicklung – auch die Förderschulen. Hier sind die für körperlich und moto­risch Eingeschränkte so dringend benötigten Ressourcen vorhanden, wie rollstuhlzugängliches WC o. ä..Wie ich von Herrn Oberstudiendirektor Ludwig Gehlen (Schulleiter der Anna-Freud-Schule in Köln) erfahren habe, wird gegenwärtig hier auch in der gymnasialen Oberstufe Inklusion betrieben. Schülerinnen und Schüler, die an der Ernst-Simons-Realschule, die sich im selben Haus befindet, ihre Fachoberschulreife mit der Zugagsberechtigung für die gymnasiale Oberstufe erwerben, können mit diesem Reifezeugnis dann auch die gymnasiale Oberstufe der Anna-Freud-Schule besuchen. In der Sekundarstufe I begonnene Freundschaften können so bis zum Abitur und ggf. auch noch weit darüber hinaus gepflegt werden. Ich selber musste 1986 als ehemaliger Oberstufenschüler nach der Jahrgangsstufe 11 der Anna-Freud-Schule eine Freundin, die an der Ernst-Simons-Realschule ihre Fachoberschulreife mit der Zugangsberechtigung für die gymnasiale Oberstufe erworben hat, in eine ungewisse Zukunft ziehen lassen. Eine weitere Schulkarriere unter demselben Dach wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht folgenlos geblieben. Inklusion also auch andersherum, gewissermaßen queer!

Literatur:
FEUSER, Georg: Behinderte Kinder und Jugendliche zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt 1995.
WOLLENWEBER, Kai-Uwe: Differenzierung. URL:
http://www.unterrichtsstoerungen.de/html/differenzierung.html [Download 03.11.2012].

Mit der Bitte um eine Reaktion zu meinen oben angeführten Gedanken bedanke ich mich für Ihre Bemü­hungen im Voraus.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Dr. Carsten Rensinghoff

Autor:

Dr. Carsten Rensinghoff aus Witten

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