Ein Bild - Eine Geschichte
Der Ruf des Watts

„Bleiben Sie bitte zusammen. Entfernen Sie sich nicht von der Gruppe. Sie wollen schließlich nicht von der Flut überrascht werden, oder?“
Mattis schüttelte wie alle anderen den Kopf. Der Prospekt in seiner Hand war schon durchweicht. Trotz der kühlen Brise hier an der Küste schwitzte er heftig in der hoch stehenden Sonne.
„Dann folgen Sie mir!“ Der Wattführer setzte sich in Bewegung und gehorsam folgte ihm die Gruppe von Touristen. Aufgeregtes Geschnatter untermalte die monotone Stimme des Mannes, als er vom Lebensraum Watt erzählte.
Niemand hörte ihm wirklich zu und Mattis konnte es den anderen Teilnehmern nicht verübeln. Wie auch er wollten sie die Überreste der versunkenen Stadt sehen, die das Meer freigab, wenn es sich für ein paar Stunden zurückzog. Immer wieder hielt der Wattführer an und grub den ein oder anderen Wattbewohner aus. Einige zeigten höfliches Interesse, doch die meisten traten unruhig auf der Stelle.
„Wo sind denn jetzt die Ruinen?“ Die nörgelnde Stimme eines dicken Mannes mit Schirmmütze unterbrach die Ausführung über Wattwürmer.
„Still Manfred, sei nicht so unhöflich!“ Seine kleine, ebenso runde Frau errötete unter ihren blonden Locken.
„Was? Ich stampfe nicht stundenlang durch Schlamm, um mir Würmer anzuschauen!“ Er hielt ihr die Kamera unter die Nase. „Ich will interessante Fotos machen!“
„Und das werden Sie auch, keine Sorge.“ Der Wattführer ließ resigniert den Wattwurm fallen, den er gerade ausgegraben hatte, und schulterte die kleine Schaufel. Anscheinend erlebte er dies nicht zum ersten Mal. „Wir haben die Ruinen bald erreicht, es ist nicht mehr weit.“
Mattis seufzte und rückte seine Kamera zurecht. Der Riemen scheuerte auf der verschwitzten Haut seines Nackens.

Nach kurzer Zeit hielt der Wattführer inne und deutete auf einen Ring aus Steinen, der wenige Zentimeter aus dem Sand ragte. „Hier sehen Sie einen der Brunnen. Da drüben ist ein weiterer. Und ein Stück in Richtung des Leuchtturms werden wir einige Mauerreste finden. Sie gehörten vermutlich zu einem Wohnhaus.“
„Das ist alles?“ Manfred klang enttäuscht, doch er zückte die Kamera.
„Habt ihr das gehört?“ Ein Mädchen, das gerade eine Keramikscherbe aus dem Schlick gezogen hatte, hob den Kopf.“
„Was denn, Liebes?“
„Eine Glocke.“
Ihre Mutter lachte. „Da hast du dich sicher verhört.“
Der Wattführer stellte sich zu ihnen. „Das hat sie nicht. Manchmal hört man die Kirchenglocken der versunkenen Stadt.“
Mattis rückte näher heran. Auch die anderen der Gruppe wurden still und lauschten gebannt. Der Wattführer lächelte. Auch das hatte er anscheinend schon öfter erlebt.
„Der Legende nach taucht die Stadt an klaren Vollmondnächten in ihrer vollen Pracht aus dem Meer auf. Man hört Musik und das Gelächter der Bewohner. Die bunten Lichter spiegeln sich in der Ferne auf dem Wasser.“
„Ist schon mal jemand dort gewesen?“ Die Stimme des kleinen Mädchens klang atemlos.
„Jene, die es gewagt haben, kehrten nie zurück. Sie sind mit der Stadt in den Fluten verschwunden.“
„War ja klar.“ Manfred bekam den Ellenbogen seiner Frau in die Seite.
„An manchen Tagen, so wie heute, kann man die Glocken hören. Sie läuteten, als die Stadt im Meer versank. Manchmal hört man auch die Stimmen der Bewohner, wie sie nach einsamen Wanderern rufen.“
Niemand sagte etwas, alle schwiegen wie in Trance. In der Ferne läutete eine Glocke.
Der Wattführer klatschte in die Hände. Alle zuckten zusammen. „So, liebe Freunde des Watts. Es wird Zeit, dass wir zurückgehen. Wir machen noch einen kurzen Halt bei den Mauerresten und dann geht es geradewegs zurück zum Strand.“
„So ein Unfug!“ Manfred klang enttäuscht.
„Manfred!“
„Was denn? Das kann doch nur Quatsch sein. Gelächter bei Mondschein, das ich nicht lache. Da hat wohl jemand zu viel getrunken. Und die Glocke. Das war bestimmt eine von den Kirchen in Husum. Kann gar nicht anders sein.“
„Manfred, jetzt hör auf zu nörgeln!“ Manfreds Frau lächelte dem Wattführer entschuldigend zu. Der hatte bei Manfreds Worten die Augenbrauen hochgezogen.
Mattis folgte der Gruppe. Was hatte der Typ denn erwartet? Aber trotzdem hatten sich ihm bei der Geschichte die Haare aufgestellt. Der Wind fühlte sich kälter an und er fror trotz der brennenden Sonne.
„Mattis!“
Er blieb stehen und sah sich um. Die Stimme war nicht von der Gruppe gekommen. Es läutete immer noch eine Glocke. Aber sie klang anders, höher als das Kirchturmgeläut von eben. Er schüttelte den Kopf. Der Wind. Die Gruppe hatte sich schon ein Stück entfernt und er beeilte sich, um sie einzuholen.
„Mattis!“
Wieder stockte er. Seine Augen suchten den Horizont ab. Er sah eine einzelne Gestalt, doch es konnte genauso gut ein anderer Wattwanderer sein. Er drehte sich wieder zur Gruppe und sein Herz rutschte in die Hose. Sein Magen verkrampfte sich. Wo waren sie? Eben noch waren sie direkt vor ihm gewesen. Er hatte sie lachen gehört. Jetzt war alles still. Bis auf die Glocke.
„Mattis!“
Er sah eine Frau, die ihm zuwinkte. Er machte einige Schritte auf sie zu. Der Schlick wurde feuchter. Das Wasser stieg langsam an. Er musste unbedingt zurück zur Gruppe.
Die Frau war näher gekommen, er konnte ihr Gesicht erkennen und ihr Lächeln ließ ihn alle Sorgen vergessen. Sie streckte ihm die Hand entgegen und er ging weiter auf sie zu. Erst ein paar Schritte, dann immer schneller, bis er schließlich rannte. Der Schlamm umklammerte seine Füße. Jeder Schritt kostete ihn Kraft. Das Wasser ging ihm bis zu den Knöcheln, doch er erreichte sie nicht. Er blieb keuchend stehen. Das Wasser reichte ihm bis zu den Knien. Er drehte sich suchend um und sah den Leuchtturm. Er war erschreckend klein. Das Wasser stieg weiter. Eine weiche Hand berührte die seine und er schaute in das liebliche Gesicht der Frau, die ihn die ganze Zeit gerufen hatte.
„Komm mit mir.“ Ihre Hand packte zu. Sie war nicht mehr weich. Vor Mattis Augen zerfiel sie. Das Fleisch faulte im Zeitraffer, bis nur die Knochen übrig blieben. Ein Schrei entfuhr seinem vor Schreck aufgerissenen Mund und wurde vom Wasser erstickt, als er in die Fluten gezogen wurde.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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