Ein Bild - Eine Geschichte
Die Entscheidung

Daria zog die grobe Decke enger um ihre Schultern. Die raue Wolle kratzte auf ihrer nackten Haut. Ein kalter Wind fegte durch die Höhle und sie zitterte trotz des dicken Stoffes. Sie machte sich klein, kauerte sich noch fester in die Nische, in der sie hockte. Was hatte sie sich nur gedacht, als sie Enjo gefolgt war und ihre Familie und ihre Heimat verlassen hatte? Sie kämpfte mit den Tränen, die sich immer wieder in ihre Augen drängten.
Als sie vor ein paar Tagen aufgebrochen waren, hatte sie geglaubt, keine andere Wahl zu haben. Allein die Aussicht auf ein Leben in einem goldenen Käfig ließ sie innerlich sterben. Jeden Tag die gleiche Langeweile wäre unerträglich gewesen. Ihre Mutter und die anderen Frauen ihres Vaters lebten von der Außenwelt abgeschirmt in dem großzügigen Gebäudekomplex, der Teil des Palastes ihres Vaters war. Nur zu besonderen Anlässen konnte sie, als seine Hauptfrau, mit ihm die Feste der Mitglieder der Königsfamilie besuchen. Das waren die einzigen Unterbrechungen ihres eintönigen Alltags, der sonst aus Handarbeiten, musizieren und endloser Körperpflege bestand. Dieses Schicksal hätte auch Daria geblüht.
Enjo hatte ihr einen Ausweg geboten. Sie hatte ihn auf dem Markt gehört, als er auf einer Kiste stand und gegen die Unterdrückung durch die Aristokratie wetterte. Seine Worte hatten sie tief berührt. Ihr war nie bewusst gewesen, wie sehr die Menschen unter der Herrschaft der Königsfamilie litten. Immer, wenn sie sich heimlich aus dem Palast schlich, hatte sie nur das bunte Treiben, die vielfältigen Gerüche und die prächtigen Farben auf dem Markt wahrgenommen. Die Bettler waren ihr kaum aufgefallen. Aber seit jenem Tag sah sie die Welt mit anderen Augen, sah die Armut und das Elend. Nun hatte sie immer etwas zum Essen, das sie von der täglichen übervollen Tafel im Palast stahl, in der Tasche. Sie verteilte es, wann immer sie aus dem Palast schlüpfen konnte.
Sie hatte Enjo plötzlich gegenübergestanden, als sie gerade einem Bettler ein Stück Brot reichte.

„Ich beobachte dich schon eine ganze Weile und werde einfach nicht schlau aus dir. Du gehörst doch zur Familie von Keno Tamagas, oder? Ich habe dich bei den Paraden zu Ehren des Königs in seiner Loge gesehen.“
Daria hatte ihn erschrocken angestarrt und dann den Blick gesenkt. Ihr Vater war einer der Vettern des Königs und sein wichtigster Berater. Ihm war es zu verdanken, dass die Steuern stetig stiegen und gnadenlos eingetrieben wurden. Sie wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken und wagte es nicht, Enjo in die Augen zu sehen.
„Also was tust du hier? Ich wusste nicht, dass adelige Frauen den Palast ohne Bewachung verlassen dürfen.“ Er war näher an sie herangetreten und hatte auf sie herabgeschaut.
Daria hatte Angst bekommen. Wollte er ihr etwas antun, sich stellvertretend für die Taten ihres Vaters an ihr rächen? Doch Enjo hatte sie am Arm genommen und sie in eine stille Seitengasse geschoben.
„Es ist gefährlich für dich, hier allein herumzulaufen. Wenn dich jemand erkennt, dann könnte es dir schlecht ergehen.“
Daria hatte ihn erstaunt und erleichtert angesehen. „Du wirst mir nichts tun?“
Enjo hatte den Kopf geschüttelt. Und da hatte sie ihm erzählt, wie sie ihn zum ersten Mal auf dem Markt gehört hatte. Wie sie dann ihren Vater belauscht hatte und so erfuhr, dass jedes von Enjos Worten der Wahrheit entsprach.
Seit diesem Tag hatten sie sich beinahe täglich getroffen. Doch sie hatte gewusst, dass ihre Familie diese Beziehung niemals erlauben würde. Es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, als ihm zu folgen, wenn sie mit ihm zusammen sein wollte. Und nun saß sie hier in dieser zugigen Höhle der Rebellen, ohne passende Kleidung, allein. Außer Enjo kannte sie niemanden und er war gerade kundschaften.
„Hier!“
Daria schreckte aus ihren trüben Gedanken hoch und schaute auf. Eine junge Frau hielt ihr ein Hemd, eine Jacke und eine Hose aus der gleichen groben Wolle entgegen, aus der auch ihre Decke bestand.
„Ich habe gesehen, dass du nicht warm genug angezogen bist.“
Zögernd nahm Daria die Kleidung. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen und diesmal ließen sie sich nicht aufhalten. Sie schluchzte und wandte das Gesicht ab.
Die junge Frau zögerte kurz, dann hockte sie sich zu Daria und legte ihr den Arm um die Schultern. „Enjo hat dich einfach eingepackt und mitgeschleppt, ohne dir zu sagen, was dich erwartet, oder?
Daria schniefte und nickte.
Die junge Frau drückte sie fest an sich. „Und doch bist du mitgekommen. Das spricht für dich. Auch wenn viele hier glauben, dass du nicht hierher gehörst.“
Daria wischte sich die Tränen von den Wangen. „Ich bin da im Moment auch nicht so sicher.“ Sie lächelte schief. Sie gehörte jetzt nirgendwo mehr dazu. Sie hatte ihre Familie für einen Rebellen verlassen. Sie würden sie nicht mehr aufnehmen. Und für die Rebellen war sie eine Fremde oder schlimmer noch, sie gehörte für sie zum Feind.
„Glaub das nicht. Ich denke, dass du uns eine große Hilfe sein kannst. Wir wissen nicht viel über den Adel, seine Gewohnheiten, die Beziehungen untereinander. Wir wissen nur das, was sie uns sehen lassen. Wir haben versucht, Spione in einige Haushalte einzuschleusen ...“ Die junge Frau schüttelte den Kopf und seufzte. „Zieh dir die warme Kleidung an, sonst wirst du krank.“ Sie erhob sich. „Ich bin Edmee, Enjos Schwester.“ Sie lächelte, dann ging sie zur Kochstelle zurück.
Daria starrte ihr einen Moment hinterher. Enjo hatte seine Schwester nie erwähnt. Ihr wurde klar, dass sie nicht viel über ihn wusste. Liebte er sie am Ende gar nicht? War sie nur eine Informantin? Sie schüttelte unwillig den Kopf. Nein, das konnte und wollte sie nicht glauben. Sie schälte sich aus der Decke und zog sich rasch die wärmenden Kleidungsstücke an und wickelte sich wieder in den dicken Wollstoff. Das war besser und was jetzt? Was sollte sie tun? Sie konnte doch nicht den ganzen Tag hier herumsitzen.
„Daria?“
Wieder zuckte Daria zusammen.
Eine ältere Frau beugte sich zu ihr hinunter und hielt ihr einen dampfenden Becher hin. Daria nahm ihn mit klammen Händen entgegen. Die Wärme durchströmte ihre Finger und vorsichtig trank sie einen Schluck von dem kräftigen Tee. „Danke.“ Sie lächelte die Frau tapfer an, versuchte erneut, die Tränen wegzublinzeln. Was mussten diese Leute nur von ihr denken. Sie suchte in ihrem Gedächtnis nach dem Namen der Frau. Cara, Enjo hatte sie als Cara vorgestellt. Sie war eine der Anführer, wenn sie sich recht entsann. Die vielen Gesichter schwirrten ihr durch den Kopf, sie konnte sie kaum auseinanderhalten.
„Enjo meinte, dass du uns vielleicht einige Informationen geben könntest.“ Sie hielt ihr auffordernd die Hand hin.
Daria zögerte. Wenn sie mitging, würde sie ihre Familie endgültig verraten. Einen Weg zurück, egal wie schmal er war, würde es dann nicht mehr geben. Sie ergriff die Hand der Frau und ließ sich hochziehen. Sie war hier. Sie hatte die Entscheidung bereits getroffen. Alles, was sie tun konnte, war, ein Teil dieser Gemeinschaft zu werden.
Sie folgte Cara zu einem Tisch, auf dem Karten ausgebreitet waren. Sie erkannte, dass sie die Stadt darstellten. Die Mauern der Paläste der Mitglieder der Königsfamilie waren eingezeichnet, einige mit einem Grundriss der Gebäude versehen, aber es war falsch. Sie kannte viele dieser Paläste. Als sie älter wurde, hatte ihr Vater sie und einige ihrer Geschwister zusammen mit ihrer Mutter auf die Feste genommen. Wohl, um sie zu präsentieren und für sie die beste Verbindung auszuhandeln. Sie hatte sich oft bei den langweiligen Ansprachen davongeschlichen und die Gebäude erkundet und war dann tagelang als Strafe dafür in ihr Zimmer gesperrt worden.
Erwartungsvoll richteten sich viele Augen auf sie. Sie holte tief Luft und nickte. Sah sich suchend um, entdeckte einen Stift und wandte ihren Blick auf den Palast des Königs. „Hinter dem Tor ist kein Flur, es folgt ein weiterer Raum mit einem weiteren Tor. Es ist immer ein Wächter dort.“ Sie setzte den Stift an und begann den Plan zu korrigieren.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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