Werner Schmitz legt neue Recherche zur NS-Zeit vor
Der nette Nachbar

Werner Schmitz hat einen lesenswerten Aufsatz vorgelegt, der auch ein Schlaglicht auf den Umgang mit der NS-Zeit in der Nachkriegszeit wirft. | Foto: Archiv
  • Werner Schmitz hat einen lesenswerten Aufsatz vorgelegt, der auch ein Schlaglicht auf den Umgang mit der NS-Zeit in der Nachkriegszeit wirft.
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Mit August Keinhörster, einem Nachbarn seiner Familie aus der Eppendorfer Konradstraße, verbindet der 1948 geborene Autor und Journalist Werner Schmitz schöne Kindheitserinnerungen. Der nette Nachbar hatte jedoch auch eine ganz andere Seite: Er war SS-Sturmmann im Zweiten Totenkopf-Sturmbann des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar. Werner Schmitz, der bereits verschiedene Beiträge zur Eppendorfer Lokalgeschichte der NS-Zeit veröffentlicht hat, hat sich auf Keinhörsters Spur begeben. Seine Recherche „Zu reißenden Bestien erzogen“ ist nicht zuletzt ein Lehrstück über das Beschweigen des Nationalsozialismus‘ in der Nachkriegszeit – und verweist auch auf ein lange verdrängtes Stück Bochumer Lokalgeschichte.

Dass August Keinhörster offenbar Hundeführer in einem Konzentrationslager war, hat Werner Schmitz bereits vor vielen Jahren von seiner Mutter erfahren. Sie konnte oder wollte ihrem Sohn allerdings nichts Genaueres über die Verstrickungen des „netten Nachbarn“ erzählen. Erst als der auch für seine sozialkritischen Kriminalromane bekannte Werner Schmitz 2020 seine Recherche zum Zwangslager für Sinti und Roma, das sich in Eppendorf ganz in der Nähe seines Elternhauses befunden hatte, vorlegte, schickte ein früherer Nachbar ihm einen Brief, den August Keinhörster 1942 seinem Vater geschickt hatte. Der Feldpostbrief trägt den Feldpoststempel „SS-Totenkopfsturmbann Buchenwald“.
Buchenwald, das KZ am Ettersberg nahe der Klassikerstadt Weimar, wurde zwischen 1937 und 1945 zur Haftstätte für 266.000 Menschen aus ganz Europa; die Zahl der Todesopfer wird auf 56.000 geschätzt. Das Elend der Häftlinge ist in August Keinhörsters Brief jedoch kein Thema. Stattdessen sinniert er über die Verpflegung des Wachpersonals und bedankt sich für die Fresspakete, die sein Nachbar ihm geschickt hat. Der Einsatz im Konzentrationslager hatte für Keinhörster einen unschätzbaren Vorteil: Er bewahrte ihn – zumindest vorerst - davor, als Soldat an der Ostfront kämpfen zu müssen. Für die nähere Zukunft befürchtete er allerdings eine „Verlegung gen Osten“.

Hunde bissen rücksichtslos zu

Als Angehöriger der Hundestaffel hatte August Keinhörster die Aufgabe, Fluchtversuche von Häftlingen zu vereiteln, wobei die Hunde rücksichtslos zubissen. Nach Fluchtversuchen wurden die Häftlinge in der Regel ermordet. Ob August Keinhörster zu den SS-Männern gehörte, die besonders grausam waren, lässt sich nicht sagen, da es zu seiner Person kaum erhaltenes Quellenmaterial gibt.
Zunächst stellt sich allerdings die Frage, was den Lokführer Keinhörster zur SS verschlagen hatte. Ein Personalbogen der Polizei, den Werner Schmitz im Landesarchiv Duisburg aufgetan hat, gibt Aufschluss: Im Jahre 1941 ist August Keinhörster in die Schutzpolizei eingetreten und von dort offenkundig zur Waffen-SS in den KZ-Wachdienst gewechselt und war in Buchenwald tätig. Seine Spur führt aber möglicherweise noch in ein anderes Lager: das Vernichtungslager Auschwitz. Vielleicht handelt es sich hierbei um die Versetzung nach Osteuropa, die Keinhörster befürchtete. Denn 1942/ 43 wurde eine Gruppe SS-Angehöriger zur Bildung einer Hundestaffel aus Buchenwald nach Auschwitz versetzt. Möglicherweise gehörte auch August Keinhörster zu dieser Gruppe. Einen eindeutigen Beleg für diese These hat Werner Schmitz allerdings nicht finden können.

Rückkehr in die Konradstraße

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches kehrte August Keinhörster zu Frau und Kind in die Eppendorfer Konradstraße zurück und nahm seine Tätigkeit als Lokomotivführer bei der Werkbahn des Stahlwerks Bochumer Verein wieder auf. In Eppendorf wussten viele über seine NS-Vergangenheit Bescheid, auch wenn Keinhörster zumindest in der Bundesrepublik nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Für ihr Schweigen hatten einige der Nachbarn wohl auch einen persönlichen Grund.
Viele von ihnen hatten während des Krieges beim Bochumer Verein gearbeitet und bei diesem Rüstungsbetrieb wurde 1944 ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald eingerichtet, wobei die Häftlinge als Zwangsarbeiter im Pressbau und in der Geschossdreherei eingesetzt waren. Unter ehemaligen Häftlingen gilt dieses Außenlager als eines der schlimmsten Konzentrationslager. Im Urteil des Buchenwald-Hauptprozesses wurden die Arbeitsbedingungen mit denen in den Vernichtungslagern des Ostens verglichen. Häftlinge starben durch Misshandlungen, Überarbeitung, Hunger und Erschöpfung, aber es kam auch immer wieder zu gezielten Hinrichtungen. Arbeiter der Munitionsfabrik quälten die Zwangsarbeiter – und daran wollten die Peiniger nach 1945 eben nicht erinnert werden und schwiegen deshalb auch über August Keinhörsters Verstrickungen in das NS-System.
Auch Werner Schmitz‘ Vater hatte während des Krieges im Geschossbau des Bochumer Vereins gearbeitet. Inwieweit er mit den Häftlingen des Außenlagers zu tun hatte, vermag der Journalist nicht zu sagen. Zu Lebzeiten seines Vaters, der relativ früh verstorben ist, habe er noch nichts vom Außenlager des KZs Buchenwald an der Brüllstraße gewusst – und auch nicht von August Keinhörsters Vergangenheit als KZ-Wächter. Ob Angehörige August Keinhörster, der 1993 86-jährig in Witten starb, nach seiner Vergangenheit befragt haben, wäre interessant zu erfahren.

Zum Weiterlesen
- Der Aufsatz „Zu reißenden Bestien erzogen“ ist auf: werner-schmitz.de zu finden.

Autor:

Nathalie Memmer aus Bochum

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