Demenz
Löcher im Kopf- die Demenz der Mutter

Löcher im Kopf - eine Erzählung
„Wie spät ist es? Der Wecker ist nicht zu erkennen. Ist er überhaupt aufgezogen?“
Die alte Frau mit dem schütteren, weißen Haar bewegt sich langsam. Mühsam richtet sie sich auf. Ihr krummer Rücken schmerzt und sie bleibt einige Minuten auf der Bettkante sitzen. Die Fernbedienung vom Fernsehen rutscht ihr von der Bettdecke zu Boden, aber sie bemerkt es nicht.
Hinter der Couch zieren zwei Kristalllampen die Wand. Der rechte gläserne Schirm ist gesprungen, aber keiner macht sich die Mühe, ihn zu reparieren.
Zwischen den Leuchten hängt ein alter Wandteppich an einer Baumbusstange, der ständig verrutscht und an den äußeren Schlaufen aus der Stange gleitet. Ob die angedeutete Landschaft in Herbsttönen so gewollt war oder jetzt verblichen ist ...
Darunter nimmt die ehemals weiße Wand einen fettigen Grauton an von ihrem Kopf beim abendlichen Fernsehen schauen . Sie stellt den Stuhl für die Beine davor, hüllt sich in eine Decke ein, um die Heizung zu sparen.
Im Halbdunkel schlurft sie zum Fenster, dessen grünes Plastikrollo kaum Tageslicht herein gelassen hat.
Wie häufig stößt sie sich an dem gekachelten Teewagen, auf dem ausgespuckte Kirschkerne und abgelutschte Nüsse einer Voll – Nuss – Schokolade liegen, darunter ein Stapel Zeitungen, Prospekte und das gesammelte vergessenene Kirchenblättchen.
Es fällt schwer, das Rollo hochzuziehen und sie verharrt einen Moment. Der Rücken macht nicht mehr gut mit. Auf der Fensterbank stehen ein paar von der Tochter geschenkte Plastikblumen, da diese meint, echte Blumen vertrocknen.
Sie schaut auf die Straße, auf der Menschen eilen und Männer in orangenen Anzügen das Herbstlaub zusammen kehren. In dem Haus gegenüber sind die Vorhänge geschlossen.
Sie fragt sich: “Wie spät ist es eigentlich? Vielleicht 5, vielleicht 6 Uhr – oder ist es Nachmittag? Ich kann mich nicht erinnern. Immer, wenn ich mich konzentrieren will, kommt die Nebelwolke. Das sind die Löcher im Kopf, sagt der Doktor.“
Nachdem sie eine Zeitlang aus dem Fenster geschaut hat, setzt sie sich an den runden schwarzen Wohnzimmertisch, und versucht, die verschiedenen Zettel, die dort liegen, zu sortieren. „Trinken nicht vergessen!“ steht auf dem einem. Ärgerlich denkt sie: „Was glaubt meine Tochter eigentlich! Als ob ich das Trinken vergesse… Überall stellt sie ein Glas hin. Aber ich trinke so viel! Außerdem… mit der Blase ist es auch nicht so gut.“
Ihr Blick wandert zum Schrank mit den vielen kleinen Fotos, das Bild ihres Mannes, vor 40 Jahren gestorben, ihre Eltern, ihre Töchter und zuvorderst die Enkel. Sie überlegt: “Wie heißen sie noch mal? Sie müssten ja schon in der Schule sein… Ach nein, sie studieren ja.“
„Wenn nur dieser blöde Schwindel nicht wäre… Immer dieser Schwindel. Ich gehe vom Bett zum Balkon und wieder zum Bett. Sie wollen mich immer zum Spaziergang überreden, aber ich bin lieber zu hause, auf dem Balkon. Draußen ist es ungewohnt, bedrohlich. Alles hat sich verändert. Wo ist jetzt das Postamt? Und der Türke, bei dem ich immer Bananen gekauft habe? Ich weiß es nicht. Ich gehe einfach nicht mehr raus! So!“
Sie macht eine kindlich trotzige Grimasse.
Dann zieht sie die blaue Bluse, die schwarze Hose an, die sie gestern über den Stuhl gelegt hat. Gelbe Socken dazu, auch von gestern, sieht die Flecken nicht.
Was jetzt? - Duschen! - “Ich dusche jeden Morgen“ sagt sie der Tochter, wenn jene ihre fettigen Haare kritisiert. Natürlich, was denkt sie sich.
„Heute geht es eben nicht.“ stellt sie fest. Sie durchquert den dunklen Flur und geht in die Küche, einem quadratisch großen Raum, in dem die ganze Familie Platz hatte. „Was wollte ich hier?“ Beim Blick auf die Kaffeemaschine erinnert sie sich.: “ Ach ja, Kaffee kochen. Dann gibt sich der Schwindel.“
Die Kanne der kleinen Kaffeemaschine klemmt unter dem Filter. Sie zerrt ärgerlich daran, und der Filter klappt heraus. Sie füllt Wasser in den Wassertank, doch kann die Konstruktion des Filters, Deckels und Kanne nicht zusammensetzen. So füllt sie den Kaffee in den Filter und setzt den Filter auf, ohne ihn zu justieren. Beim Durchlaufen fließt die Hälfte des Wassers seitlich heraus, doch jetzt hat sie Kaffe, eine halbe Tasse, und sitzt am alten Küchentisch, auf dem sie schon ihre Kinder gewickelt hat,
Sie schaut auf den Hinterhof, auf die gegenüber liegende Häuserfront, von Küche und Balkon zu sehen.
„Der Vorhang ist schon wieder geschlossen… Wo die Leute nur sind…Und die Tauben auf dem Dach „bekriegen“ sich wieder… Die geben auch keine Ruhe…“
Auf dem Küchentisch stehen viele Engelchen. Als ihre Tochter merkte, wie sehr sie Engel liebt, hat sie ihr eine ganze Sammlung angeschafft, Engel in allen Sorten, Größen und Arten… Nun sind sie umgekippt! Sie stehen nicht wie sonst. Sie muss sie sortieren. Das nimmt viel Zeit in Anspruch.
Bei der Gelegenheit sieht sie auf dem Tisch eine Schale Kleingebäck.
"Mhm, lecker." Sie stopft es sich in den Mund.
„Ich werde wieder so müde.“ denkt sie. “Außerdem dieser Schwindel…“ Sie geht ins Wohnzimmer, legt sich aufs Bett und schläft ein.
Mittags ruft die Tochter an:“ Hast du gut geschlafen? Und geduscht? Gefrühstückt?“
"Ja natürlich. Ich dusche jeden Morgen. Und frühstücke immer, das weißt du doch."
„Und hast du getrunken?“
„Natürlich. Ich trinke immer. Habe immer was stehen! ... Kommst du vorbei?“
Die Tochter spricht von Arbeit und Verpflichtungen.
„Ich wünsche dir einen schönen Tag!“ sagt die Tochter.
„Schönen Tag!“ sagt die Mutter.
Sie zieht sich die Bettdecke über die Nase und wartet.
Es schellt. Die Enkelin kommt vorbei, keck wie immer.
„Na, hast du deine Zähne drin?“ fragt sie. „Wo sind sie denn ?“ Sie suchen sie gemeinsam und finden sie neben dem Telefon.
„Mensch Oma, du müsstest dir auch mal die Nägel schneiden.“ sagt sie. „Und wie es hier riecht…“
Von der Mutter instruiert, beginnt sie mit der Frage, ob Oma nicht doch in ein Heim wolle. Sie haben das Thema schon oft erörtert, sogar Heime angesehen. Sie erzählt Oma, es gäbe eine schöne Wohngemeinschaft für Leute ihres Schlages. Sie sagt nicht: „ihrer Krankheit“, aber die Oma versteht es auch so.
Das bedeutet nichts Gutes.
Sie ist empört : "Nein – Nein – Nein! Nicht ins Heim! Da bin ich nur mit Blöden zusammen. Ich bleibe hier." sagt sie entschieden. „Ich habe hier so einen schönen Balkon.“
Die Enkelin denkt an die vertrockneten Blumen. Früher war Oma eine lebhafte, intelligente Frau mit viel Scharfwitz, oft unter der Gürtellinie, und war es gewohnt, zu bestimmen. Jetzt in ein Heim ist eine Entmündigung.
Resigniert gibt die Enkelin auf und lenkt das Thema zum zwanzigsten Mal auf die Nachbarbalkone, auf die geschlossenen Vorhänge der Leute gegenüber.
Oma ist immer noch gekränkt: „ In ein Heim. Was die sich wohl denken.“
Die Enkelein geht und Oma setzt sich auf ihren geliebten Balkon.
"Die Nachbarn haben die Vorhänge immer noch nicht aufgezogen.
Und die Tauben auf dem Dach „bekriegen“ sich wieder."
Sie schaut in den Himmel und sieht ein Wolkenbild. Ein milchiger Babykopf lächelt sie an. Sie lächelt zurück.
Langsam löst er sich in bauschigen Streifen auf und verblasst im herbstlichen Graublau.
Ein gelbes Blatt der Linde im Innenhof schwebt langsam zu Boden.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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