Die EU greift mit neuen Regelungen immer stärker in den Alltag der Bürger ein

Die EU greift mit neuen Regulierungen zu WC-Anlagen, Duschköpfen, Staubsaugern, Menükarten oder Zigarettenpackungen immer stärker ins Alltagsleben der Bürger ein. Europa-Gegner wollen bei den EU-Wahlen im Mai vom wachsenden Ärger über die Bevormundung profitieren.

Der EU-Rechtsbestand umfasst mehr als 85.000 Seiten. Vergangene Woche kamen wieder mehrere Regelungen hinzu. Im Europaparlament in Straßburg wurden unter anderem eine neue Verordnung über Fahrtenschreiber für Lkw und Busse, die Änderung der Finanzmarkt-Richtlinie und eine Bestimmung über die Inhaltsstoffe von Honig beschlossen.

Durchaus sinnvoll erscheint die Zulassung der neuen Tachografen, bei denen die Kontrolle von Ruhezeiten der Fahrer sozusagen im Vorbeifahren ermöglicht wird. Auch die neuen Auflagen für hochfrequente Finanzgeschäfte bringen Vorteile: So sieht Caritas-Chef Michael Landau damit das weltweite Spekulieren mit Agrarprodukten erschwert. Bei der Honig-Richtlinie dürfte sich die Lebensmittelindustrie durchgesetzt haben: Pollen aus gentechnisch veränderten Pflanzen müssen nicht extra als Inhaltsstoff angeführt werden.

Der stetig steigende Anfall neuer EU-Regelungen, die direkt in den Alltag der Bürger eingreifen, löst in Europa wachsende Kritik aus. Zuletzt echauffierten sich deutsche Politiker über eine drohende Aushöhlung der nationalen Zuständigkeit für Sozialhilfen. Eine Stellungnahme der EU-Kommission, in der die automatische Ablehnung von Hartz-IV-Beihilfen für arbeitslose EU-Zuwanderer kritisiert wird, sorgte für Wirbel. „Beinahe jede Woche kommt diese EU-Kommission mit einem Vorschlag, der entweder Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet oder die Zustimmung der Bevölkerung zur europäischen Idee“, polterte der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer.

In Großbritannien forderte Finanz­minister George ­Osborne vergangene Woche eine Rückverlagerung von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten. Ohne tiefgreifende Reform der Union und Kürzungen von Sozialleistungen bliebe den Briten bald nur ein Austritt aus der EU übrig, so Osborne.

Mit Blick auf die Europawahlen im Mai 2014 blasen EU-feindliche Parteien unter Hinweis auf überbordende EU-Regelungen zum Angriff gegen die „Brüsseler Bürokraten“. Dabei fällt unter den Tisch, dass die gern gescholtene EU-Kommission nicht im Alleingang handeln kann. ­Vertreter der Mitgliedsstaaten haben jedes europäische Gesetz mitbeschlossen. Sehr oft gehen heute lächerlich wirkende Vorschriften auf Initiativen aus EU-Ländern zurück, wie etwa die über 20 Jahre alte Norm für Traktorensitze, für die sich Bayern zur Vermeidung von Unfällen erfolgreich einsetzte.

Doch vor dem Hintergrund der Folgen der Finanzkrise zeigen immer weniger EU-Bürger Verständnis für lästige Detailvorschriften aus Brüssel, während für große Probleme noch zu wenig oder gar keine Regelungen auf europäischer Ebene bestehen. So mussten für den Finanzmarkt erst mühsam EU-Regeln aufgestellt werden, zuletzt etwa für die Abwicklung von Pleite-Banken.

Gleichzeitig nervte die EU-Kommission mit dem Aus für herkömmliche Glühbirnen, Vorschlägen zur Begrenzung des Wasserverbrauchs für Toiletten und Duschen oder mit dem Verbot von leistungsstarken Staubsaugern.

Solche Vorschläge basieren auf der „Ökodesign“-Richtlinie aus dem Jahr 2005. Damals wurden als Beitrag zum Energie- oder Wassersparen neue Regeln für Haushaltsgeräte und Beleuchtung eingeführt. Seither entwickelte vor allem die Generaldirektion Umwelt unter Aufsicht des slowenischen Umweltkommissars Janez Potocnik eine wahre Regelungswut.

Im sogenannten „Komitologie“-Verfahren reicht für Vorschläge in diesem Bereich die Zustimmung des Ministerrates, der sich manchmal überhaupt nur auf Expertenebene trifft. Das Europaparlament darf nicht mitentscheiden. Für die Heerscharen von Lobbyisten in Brüssel war es so einfacher, ihre Anliegen durchzusetzen. Gerade beim Glühbirnen-Verbot konnten sich Hersteller durch den Verkauf von Energiesparlampen, die mit dem Verbot der herkömmlichen Leuchtmittel schlagartig teurer wurden, ein gutes Geschäft sichern.

Der polnische EU-Kommissar Janusz Lewandowski hat für den Regelungswahn mancher Abteilungen der Brüsseler Behörde eine einfache Erklärung parat: „Durch Regulierung entsteht Sichtbarkeit. So wurde leider zu oft ohne wirkliche Notwendigkeit in den Alltag der Bürger eingegriffen“, erklärt der für das EU-Budget zuständige Pole. Maßnahmen gegen Überregulierung wie ein seit fünf Jahren wirksames „impact assessment“, das dem Beschluss neuer EU-Regeln deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Umwelt prüft, sollten verschärft werden, empfiehlt Lewandowski. Der nächsten EU-Kommission sollte ein eigener Kommissar für Bürokratieabbau angehören.

Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn schlägt vor zu prüfen, „was auf europäischer Ebene behandelt werden soll und was auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene besser geregelt werden kann“. Zuletzt habe eine Delegation aus Graz um eine EU-Regelung über das Betteln gebeten. „Doch wir müssen wirklich nicht jedes Problem regeln“, lehnte Hahn höflich ab.

Die österreichische Industriellenvereinigung will demnächst einen Katalog von aus ihrer Sicht entbehrlichen EU-Gesetzesakten vorlegen. Vor allem aufwendige Dokumentations- oder Berichtspflichten stellten für Unternehmen eine immer stärkere Belastung dar, so eine IV-Sprecherin. Als negatives Beispiel wird das Registrierungsprogramm „Reach“ genannt, das seit 2008 für die gesamte europäische Chemieindustrie gilt. Dieses habe schon in den ersten drei Jahren Mehrkosten von 2,1 Milliarden Euro verursacht.

Die EU-Kommission hat bereits im vergangenen Herbst zum Rückzug geblasen. „Die Europäische Union muss groß in großen Dingen und kleiner in kleinen Dingen sein“, kündigte Präsident José Manuel Barroso im Europaparlament an. In einem profil-Interview im September des Vorjahres verteidigte er aber die Notwendigkeit von Regelungen für den gemeinsamen Markt, „um fairen Wettbewerb für alle zu sichern“. Denn es würde gerade Unternehmen in kleineren Ländern wie Österreich „schwer treffen, wenn sie nicht mehr in größere Märkte exportieren können“. Und oft sei die EU besser als ihr Ruf. „Schlimmer als die europäische Bürokratie ist für mich die Kombination aus 28 nationalen Bürokratien“, ätzte Barroso.

Mit dem neuen „Refit“-Programm (Regulatory Fitness and Performance) sollen bestehende EU-Gesetze vereinfacht oder ganz abgeschafft werden. Dass gleich am Anfang Richtlinien zum Schutz von Arbeitnehmern gestrichen wurden, löste Proteste des Europäischen Gewerkschaftsbundes aus. So wurde als eine der ersten Regelungen jene über Friseursalons gekippt, die rutschfeste Böden und niedrige Schuhabsätze für Angestellte vorschreibt.

Der frühere bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Edmund Stoiber ist noch bis Herbst 2014 ehrenamtlicher Vorsitzender der „High Level“-Gruppe für Bürokratieabbau in der EU. Er zieht stolz Bilanz über seine sechsjährige Tätigkeit. Die 23 Millionen Betriebe in der EU seien schon um ein Viertel der bürokratischen Bürden entlastet worden. Kleine Unternehmen würden sich durch von der Arbeitsgruppe durchgesetzte Ausnahmen bei den Bilanzierungsvorschriften jährlich über drei Milliarden Euro ersparen.

„Brüssel hat zu wenige Kompetenzen in manchen großen Fragen und zu viele Kompetenzen in der Gestaltung regionaler oder sogar lokaler Gegebenheiten“, klagt Stoiber. „Der Alltag der Bürger muss nicht in Brüssel geregelt werden.“ Er vermisst Vorschläge aus den Mitgliedstaaten, welche EU-Regelungen abgeschafft gehörten: „Wo sind die Abbaulisten aus Österreich oder Deutschland?“ Die EU-Kommission diene dann als willkommener Sündenbock, auch wenn viele Initiativen für neue Regelungen „aus der Wirtschaft und den Regierungen von Mitgliedsstaaten“ kämen. „Wenn sich dann die Bürger beschweren, will man davon nichts mehr wissen und zeigt mit dem Finger auf die Kommission“, so Stoiber.

Für den EU-Bürger soll der europäische Mehrwert von EU-Regelungen sichtbarer gemacht werden, fordert auch der Vorsitzende der liberalen Fraktion im Europaparlament, Belgiens ehemaliger Premierminister Guy Verhofstadt. „Wir müssen besser erklären, dass ein einzelnes EU-Land große Probleme wie Klimawandel, Terrorismus, Einwanderung oder auch die Flut von Dumpingprodukten aus Fernost nicht mehr alleine lösen kann. Dazu ist eine bessere Politik, nicht mehr Regulierung nötig.

Autor:

Ulrich Bormann aus Bochum

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