Taksim ist überall!

Leider erreichte mich dieser lesenswerte Bericht über die türkische Demokratie-Bewegung von Benny Krutschinna von linksjugend solid erst heute.
Mit seiner Genehmigung wird er hier einen größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht:

Erfahrungsbericht von Benny Krutschinna

Die Föderation der demokratischen Arbeitervereine aus der Türkei Deutschland (DIDF) hat sehr kurzfristig mit ihren Schwesterorganisationen aus Frankreich, England, Österreich und der Schweiz eine Delegation nach Istanbul organisiert. Ich war Teil dieser Delegation und bin von Freitagnacht auf Samstagmorgen nach Istanbul geflogen.

Samstag, 15.6.

Nachdem wir von einem Genossen im Flughafen Sabiha abgeholt wurden, ging es mit dem Auto direkt Richtung Taksim. Auf der Autobahn erzählte uns der Genosse, dass seit dem Beginn der Proteste, die am 28 Mai begannen, jeden Abend um eine bestimmte Uhrzeit ein Teil der Autobahn von tausenden Capulcus blockiert wird.

Als wir am Taksim ankamen und unsere Koffer am Hotel hinterließen, ging es direkt zum Gezi Park. Es war bereits 5 Uhr morgens. Doch es war dort immer noch voll, einige schliefen, viele unterhielten sich, einige tanzten noch Halay. Es wurde uns erklärt, dass den ganzen Tag über Halay getanzt wird. Der Halay dürfe im Gezi Park niemals aufhören. Direkt erklärt sich ein Aktivist bereit uns einen Rundgang durch den Park zu geben. Der ganze Park war voller Zelte und überall liefen Aktivisten herum, die Müll aufsammelten. Allgemein war der Park sehr sauber, obwohl so viele Menschen dort seit Wochen leben. Es wurde uns gesagt, dass der Park sogar jetzt sauberer sei, als vor dem Camp. Uns wurde eine Bücherei gezeigt, wo jeder sich Bücher ausleihen kann. Aktivisten verteilten umsonst Zigaretten. Die Mensa des Parks war immer noch geöffnet. Uns wurde dort Wasser gegeben. Als jemand von uns Geld dafür geben wollte, wirkte er etwas beleidigt. Geld wird im Park für Essen, Zigaretten oder Wasser nicht angenommen. Dafür sind Spenden natürlich willkommen. Uns wurde der „Garten“ des Parks gezeigt. Dort wurden Pflanzen und neue Bäume gepflanzt. Am Ende des Parks wurde an steilen Stellen das Gelände so geändert, dass eine Art Treppen gemacht wurden. Dadurch sollen die Aktivisten bei einem Angriff der Polizei besser fliehen können. Uns wurde nicht das komplette Camp gezeigt, denn nach einer Stunde waren wir doch schon sehr ermüdet. Sehr übermüdet aber voller Erwartungen für den Tag gingen wir für paar Stunden ins Hotel.

Um 10 Uhr ging es im Hotel direkt los mit einem Gespräch mit Lami Özgen, dem Präsidenten der Gewerkschaft KESK. Die Gewerkschaft hat etwa 240.000 Mitglieder und ist ein Zusammenschluss von Gewerkschaften im öffentlichen Dienst. Er erklärte uns, dass es für den öffentlichen Dienst drei Gewerkschaftszusammenschlüsse gibt. Die KESK besteht aus sozialdemokratischen und sozialistischen Kräften. Die anderen beiden sind entweder AKP nah oder nationalistisch. Die KESK hat sich an den Protesten angeschlossen und unterstützt diese. Sie verbindet die Forderungen der Aktivisten mit Forderungen um bessere Arbeitsbedingungen. Die KESK mobilisiert ständig Tausende zum Taksim Platz. Für Lami Özgen entstand die Bewegung gegen die autoritäre Politik, die unterschiedliche Gruppierungen vereint hat, weil sie für demokratische Rechte kämpft, für einen bestimmten Lifestyle. Seiner Meinung nach macht Erdogan, was er will; Er geht keine Kompromisse ein, weil er 49 Prozent in der letzten Wahl bekommen hat. Die KESK wird vom Staatsapparat wegen der Unterstützung unterdrückt. Lami Özgen kam selbst deshalb ins Gefängnis, wegen öffentlichem Druck wurde er jedoch bald wieder freigelassen. Jedoch sind 78 Mitglieder weiterhin im Gefängnis eingesperrt.
Anschließend gingen wir in den Park und suchten Gespräche mit Aktivisten. Wir sprachen zuerst mit einem Schüler. Für ihn sei die größte Sorge die brutale Polizeigewalt. Bisher verloren deshalb vier Menschen ihr Leben, mindestens zehn verloren ihr Augenlicht. Er selbst möchte kein Referendum. Für ihn sei es nur eine Taktik um die Bewegung zu schwächen.

Dann sprachen wir mit einer Aktivistin, die in der kommunistischen Partei TKP organisiert ist. Sie ist Lehrerin aus Ankara und kam extra wegen des Camps nach Istanbul, weil sie ihre Freunde und Genossen dort unterstützen möchte. Wir diskutierten in einer großen Runde, viele beteiligten sich an der Diskussion. Sie lehnt ebenfalls das mögliche Referendum ab – dieses würde nicht fair ablaufen, weil fast alle Medien pro Erdogan eingestellt sind. Sie könne die Polizei nicht einschätzen, da sie ständig ihre Meinung ändern würden. Jeder Angriff der Polizei würde die Bewegung nur noch stärker machen. Die Bewegung sei der Beginn einer neuen Demokratie und sie setzt viel Hoffnung in die Bewegung. Sie merke, wie die Autorität der Polizei und des Staatsapparates bröckeln würde. Ohne Vorwarnung würde Tränengas eingesetzt werden. Eine andere Aktivistin, die direkt neben dem Gezi Park wohnt, erzählte von ihren Erlebnissen vom 11.6 – An dem Tag griff die Polizei den Taksim Platz an. Sechs Provokateure warfen Molotowcocktails auf die Wasserwerfer, merkwürdigerweise konnte die Polizei diese sechs Provokateure nicht aufhalten. Das ging stundenlang so. Während des Erdbebens von 1993 seien viele Anwohner, so auch sie, zum Schutz in den Park geflüchtet und hätten dort eine Woche lang gewohnt. In der Innenstadt ist es der einzige Park. Angesprochen auf die Rolle der MHP in der Bewegung, den extremen Nationalisten, sagte sie folgendes: Die MHP sei selbst in dieser Frage gespalten. Die Führung unterstützt weiterhin Erdogan, einige haben sich jedoch den Protesten angeschlossen. Diese würde sie nicht Faschisten nennen, denn sie hätten ein gemeinsames Ziel und durch den ständigen Kontakt mit diesen würden auch Grenzen abgebaut werden.

Darauf gingen wir in das Zelt von Gezi Park TV. Diese Aktivisten haben eine eigene Kamera und führen jeden Tag unzählige Interviews, die sie dann auf ihrer eigenen Homepage und auf Facebook veröffentlichen. Die Frau, mit der wir sprachen, wurde erst durch die Polizeigewalt politisch aktiv. Davor war sie nur wenig politisch interessiert. Sie findet es toll, dass alle Schichten und Gruppierungen hier vertreten sind – sie spüre ständig die große Solidarität, jeder würde sofort bei allen Dingen helfen.

Unsere Delegation fuhr dann zum Attatürk-Flughafen am Rande der Stadt. Dort besuchten wir eine Gruppe Streikender von Turkish Airlines. Sie hatten ihr Lager mit Zelten auf einem Parkplatz aufgebaut, seit 32 Tagen streiken sie. Sie fordern, dass 305 entlassende Mitarbeiter ihre Arbeit wiederbekommen. Diesen wurde gekündigt, weil sie sich gewerkschaftlich organisiert haben. Sie klagten vor Gericht und bekamen Recht, trotzdem weigerte sich Turkish Airlines sie wieder einzustellen. Zudem fordern sie bessere Tarife und bessere Arbeitsbedingungen. Sie haben noch kein Angebot vom Arbeitgeber erhalten. Trotz Einschüchterungsversuche durch den Arbeitgeber per SMS und Medien beteiligen sich am Streik 1500 bis 1600 Arbeiter.

Und nun ging es wieder zurück zum Gezi Park, denn wir als Delegation sollten auf der Bühne sprechen. Es war etwa 21 Uhr und viele Familien und alte Leute waren dort. Ich sah auch einen Marsch von hunderten Müttern durch den Taksim Platz. Sie unterstützen ihre Kinder, nachdem Erdogan die Mütter im Fernsehen aufgefordert hat, ihre Kinder an die Hand zu nehmen und nach Hause zu gehen. Es war so voll, dass man kaum vorwärts kam. Doch leider konnten wir nicht mehr auf der Bühne sprechen, denn kurz nachdem wir im dort ankamen liefen viele Menschen wild umher. Die Polizei soll den Park angreifen. Sofort wurden wir mit Helmen und Taucherbrillen ausgerüstet. Die Polizei schoss dann auch mit Feuerwerkskörpern in die Luft. Alle versuchten schnell aus dem Park zu kommen. Eine Minute später wurden überall Gasgranaten abgeschossen. Eine landete direkt vor meinen Füßen. Ich lief panisch weg, verlor alle aus meiner Gruppe und war nun auf mich alleine angewiesen. Sofort konnte ich fast nichts mehr sehen, konnte kaum noch atmen. Ich lief aus dem Park, jedoch war eine Stelle sehr steil und voller Steinen. Zum Glück hielt mich jemand an die Hand und half mir herunter. Angekommen auf der Straße mit weiteren Tausenden wurden wir wieder angegriffen. Gasgranaten landeten wieder fast neben mir. Diesmal wurde mein Zustand noch schlimmer. Ich torkelte die Straße weiter und konnte mich gerade noch in ein Hotel retten. Dort waren schon viele andere Verwundete. Mir wurde direkt von anderen Demonstranten geholfen. Sie sprühten mir eine Flüssigkeit in die Augen. Nach einer Zeit ging es mir besser. Glücklicherweise flüchteten zufällig auch andere aus der Delegation in das Hotel. Das Hotel war relativ sicher und auch Hotelangestellte halfen uns.

Nun waren wir eingesperrt, denn draußen tobte der Kampf weiter und an einen anderen Ort zu gehen, war viel zu gefährlich. Wir konnten auf der Treppe des Hotels beobachten, wie sich vor dem 50 Meter entfernten Divan Hotel die Situation verschärfte. Ständig wurden Wasserwerfer und Gasgranaten gegen die Demonstranten dort eingesetzt. Nach kurzer Zeit kam die Feuerwehr und versorgte die Wasserwerfer mit weiterem Wasser, so viel hatten sie schon gegen die Demonstranten eingesetzt! Ein Rettungswagen nach dem anderen kam vor das Hotel. Auf der Treppe schossen etwa 20 andere so wie ich Fotos, als plötzlich ein Polizist mit einem Maschinengewehr Gummigeschosse auf unsere Gruppe schoss. Wir flüchteten panisch wieder ins Hotel. Einige wurden von den Gummigeschossen getroffen. Ein Demonstrant hatte seinen ganzen Rücken voller Blutergüsse. Nach einiger Zeit trauten sich wieder einige auf die Treppe, bis Gasgranaten auf uns geworfen wurden. Das Gas drang bis in die Hotellobby ein. Eine kleine Gruppe von uns ging später zum Gezi Park. Sie erzählten uns, dass bereits alle Zelte abgerissen und geplündert worden ist. Erst um drei Uhr nachts trauten wir uns zusammen zu unserem Hotel direkt am Taksim Platz zu gehen. Nach einer Weile wurden wir von Polizisten angehalten. Nur weil Heike Hänsel, MdB, einen Diplomatenpass vorzeigte, konnten wir in unser Hotel gelangen.

Sonntag, 16.6.

Vormittags fuhren wir zusammen zu dem Sitz von Hayat TV. Dort sprachen wir mit dem Chefredakteur des Fernsehsenders. Er erzählte uns, dass der Sender geschlossen werden sollte. Dies beschloss der nationale Sicherheitsrat. Der Sender sei illegal, obwohl er seit 6 Jahren on air ist und eine internationale Lizenz aus London hat. Der Sicherheitsrat setzt sich aus den Fraktionen im Parlament zusammen, die Mehrheit im Rat wird von der AKP besetzt. Sie haben umfangreiche Befugnisse, so können sie Geldstrafen verhängen oder Sender einstellen. Die Befehle müssen sofort umgesetzt werden, erst nach der Umsetzung kann man klagen. Die Drohung der Schließung von Hayat TV wurde wegen dem Druck aus dem Ausland und Inland wieder fallengelassen, kann aber jederzeit wiederholt werden. 2008 musste der Sender schon für 28 Tage geschlossen werden. In der Türkei gibt es nur drei Sender, die noch kritisch berichten. Zum einen der Kanal Hayat TV, der parteiunabhängig ist. Dann gibt es noch Halk TV, der der kemalistischen CHP nahesteht und Ulusal TV, der der Isci Partisi gehört. Diese Partei ist nationalistisch und sozialistisch. Halk TV musste letztens eine Geldstrafe von 146.000 Lire (etwa 78.000 Euro) bezahlen, weil in einer Sendung jemand rauchend gezeigt wurde. Rauchen und bald auch das Konsumieren von Alkohol ist im Fernsehen verboten worden. 2005 wurde das Rundfunkgesetz geändert. Davor durften die Konzerne, denen die Sender gehören, sich nur im Medienbereich finanzieren. Das wurde mit dem neuen Gesetz geändert. Die Mainstream-Sender sind nun ausnahmslos in der Hand von großen Konzernen mit Milliardenumsatz. Diese Konzerne bestimmen die Inhalte der Sendungen. Da der Staat ein sehr großer Auftraggeber ist, wollen sie die AKP-Regierung nicht verärgern. Dadurch wird Selbstzensur betrieben. Da der Sender NTV während der Angriffe der Polizei auf dem Gezi Park eine Reportage über Delphine sendete und auch sonst die Proteste komplett verschwieg, wurde der Sender Ziel von Protesten. Über 5000 Demonstranten versammelten sich vor der Senderzentrale. Seitdem berichtet der Sender auch über die Bewegung. Einige Finanzkonzerne kritisieren die seltene Berichterstattung über die Proteste, sodass die großen Sender seit den Protesten 25 Prozent weniger Werbegelder bekommen.

Anschließend waren wir noch in der Stadt unterwegs und sahen unzählige Busse und Schiffe mit AKP-Anhängern. Diese wurden zur Massenkundgebung für Erdogan auf die asiatische Seite der Stadt gebracht, obwohl sonst an dem Tag kaum öffentliche Verkehrsmittel fuhren und man auf Taxis angewiesen war. An diesem Tag sahen wir ebenso unzählige Demonstranten, die in kleinen Gruppen versuchten auf den gesperrten Taksim Platz zu gelangen. Sie wurden mit Wasserwerfern und Gasgranaten davon abgehalten.

Am Abend flogen wir nach Deutschland zurück. Wir wären gerne länger geblieben, um unsere GenossInnen vor Ort zu unterstützen. Wir haben viele wertvolle und aufschlussreiche Erinnerungen nach Deutschland mitgenommen.

Autor:

Christoph Nitsch aus Bochum

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

1 Kommentar

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.