Wenn Sport doch glücklich machen würde: Der WAZ-Medizin-Dialog "Sport und Psyche" aus der Sicht eines erkrankten Menschen

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Draußen scheint die Sonne. Sie scheint seit ein paar Tagen ohne Unterlass und lockt die Menschen auf die Straße, in die Parks und in die Gärten. Sybille sitzt am Küchentisch und schaut ihnen beim Leben zu. Sie tut sich schwer, hinauszugehen. Sie kann nicht mithalten. Der Körper hält sie auf dem Stuhl fest. Das gleißend helle Licht der ersten schönen Frühlingstage und der strahlend blaue Himmel verbrennen ihr die Seele. Der klare Sonnenschein verursacht sogar körperliche Schmerzen.

Der Körper tut ihr an fast allen Stellen weh. Der eiserne Ring um die Hüfte und den Oberleib zieht sich zusammen. Alle Fasern der Muskeln sind zum Zerreißen angespannt. Sitzen geht jetzt häufig auch nicht mehr, weil der Körper dann auf diesem harten Ring aufstaucht. Sie möchte ihn aufhängen, um ihn aus dem Ring herauszuziehen, damit er schmerzfrei wird. Es geht nicht, Sybille ist nicht lang genug, um ihn zu strecken.

Weil das Sitzen nicht mehr auszuhalten ist, schleppt sie sich zu ihrem Bett im Dachgeschoss. Alle Bewegungen, die nötig sind, führt sie gegen eine angezogene Handbremse aus. Der Körper ist schwer wie Blei und gerät auf ihrem Weg nach oben außer Puste. Bevor sie ihn mit seinen Schmerzen auf das Bett legt, zieht sie die Jalousien zu, um das verletzend helle Licht auszusperren. Das Liegen bringt ihr kaum Erleichterung, weil jetzt die Rückenschmerzen dominieren. Die Gedanken fangen an zu wandern.

„Sport macht glücklich“, haben sie in der letzten Woche bei den Vorträgen des WAZ-Medizin-Dialogs im Hörsaalzentrum des St. Josef-Hospitals gesagt. Sybille kann nur traurig lachen. Das zu hören, hatte ihr den Magen umgedreht. Als ob es so einfach wäre, mit Depressionen Sport zu treiben; oder mit dem Trauma, das seit drei Jahren für die Schmerzen sorgte und ihr die Kraft nahm.

Sie war über die euphorischen Vorträge eher böse gewesen, hatte gespürt, wie die Wut in ihr aufstieg und hatte sich mühsam beherrschen müssen, sie nicht herauszulassen. Diese tiefe Wut auf die gesunden Behandelnden, die nicht wussten, wie sich diese Krankheit anfühlte und sich dort vorne hinstellten und den Zuhörern verkündeten, wie wichtig Sport sei und dass er gegen Depressionen wirksam sei.
Sie hatten Studien vorgestellt, die so schnell nicht nachvollzogen werden konnten, weshalb sie schließlich einfach abgeschaltet hatte. Sollten sie doch reden.

Sybille gehörte denen an, die man nicht gefragt hatte, wie Sport sich auf die Psyche auswirkt. Sie hätte zum Thema "Sport und Psyche" etwas anderes erzählt. Aber Betroffene hielten keine Vorträge. Vorträge waren ein Privileg angesehener Experten, eine Angelegenheit der Wissenschaftler, die für Dritte erklärten, wie sie sich laut Studie zu fühlen hatten.

Sybille hätte gern gesagt, dass man nicht verallgemeinern durfte, weil Erkrankte dadurch Gefahr liefen, sich unzulänglich zu fühlen, wenn sie anders funktionierten, als das Ergebnis dieser Studien verlauten ließ.
Sie hätte gern gesagt, dass Sport nicht grundsätzlich vor Erkrankungen der Psyche schützt.
Sie hätte gern erzählt, wie schwer es ist, mit Depressionen Sport zu treiben; dass das in etwa so sei, als ob sich jemand mit Grippe und 40 Fieber die Jogging-Schuhe anziehen soll, um loszulaufen.

Sie hätte gern erzählt, dass ein Mensch mit dieser psychischen Erkrankung es oftmals wochenlang nicht einmal schaffte, seine Hausarbeit zu machen;
und dass es für einen kranken Menschen wichtig ist, nicht gleich an Sport zu denken, sondern für sich bereits zu würdigen, wenn er es schafft, den Staubsauger zu schwingen;
dass es bereits eine wichtige körperliche Betätigung ist, zum Bäcker zu laufen und ein Brot zu kaufen, weil es in Bewegung hält, auch wenn die Störung der Befindlichkeit, die eine Depression begleitet, stark verunsichert und haltlos macht;
dass schon solche, für den gesunden Menschen unscheinbaren Aktivitäten eine wichtige Hürde für den Erkrankten sind, die er für sich anerkennen muss, wenn er sie genommen hat, weil es sich anfühlt, als müsse er Gewichte heben, um sie auszuführen.

Für den depressiv Erkrankten bedeutete Bewegung in erster Linie, aus der Lethargie herauszufinden. „Glück“ war dabei ziemlich weit entfernt. Wie konnten Psychologen überhaupt von „Glück“ reden, wo doch mittlerweile jeder wusste, dass man dieses Wort zur Vermeidung überhöhter Ansprüche an sich selber am besten nicht mehr in den Mund nahm. „Zufrieden“ wäre weitaus besser. „Bewegung kann zufrieden machen“. Bei einer solchen Aussage hätte Sybille nicken können.

Sport ist für gesunde Menschen wichtig. Er hält den Körper fit und hilft, bei Verstimmungen schnell aus dem Loch herauszufinden.
Manchmal fühlt man sich nicht gut, weil die Bewegung fehlt. Natürlich weiß Sybille das, das kann sie selber spüren. Aber das Gefühl ist völlig grundverschieden. Wenn Körper und Seele aus Bewegungsmangel unleidlich sind fühlt sich das ganz anders an, als wenn die Depression den Körper in die Knie zwingt.

Im ersten Fall verhilft die sportliche Betätigung tatsächlich zu einer spürbaren Verbesserung der eigenen Befindlichkeit, Bewegung und Sinneseindrücke helfen dann, die Stimmung zu verbessern.
Im Falle mittlerer oder sogar schwerer Depressionen spürt Sybille jedoch keine Linderung. Die Bewegung verändert in ihr nichts. Auch ein Trainingseffekt tritt dann nicht ein. Der Körper bleibt ganz einfach schwer und untrainiert.

„Sport schützt vor der Entstehung psychischer Erkrankungen.“ Wie wollten sie denn das beweisen? Sybille war von Kind an viel in der Natur herumgetobt, hatte einen Beruf gewählt, der körperliche Bewegung in frischer Luft bedeut hatte. Sie hatte viele Jahre Badminton und Volleyball gespielt, sie fuhr oft mit dem Fahrrad, um draußen an der Luft aktiv zu sein.
Der Entstehung von Depressionen hatte das nicht vorgebeugt. Auch den schweren Verlauf hatten sie nicht aufgehalten. Jetzt war sie sehr schwer krank und saß in diesen Vorträgen, um sich anzuhören, was gesunde Menschen dachten.

Vor den Depressionen konnte man nicht einfach weglaufen, sie ließen sich nicht auf dem Fahrrad wegstrampeln. Wenn das so einfach wäre, wie die Experten sagten, müsste man depressiv erkrankten Menschen zunächst verordnen, ein halbes Jahr lang Sport zu treiben.
Erst wenn es ihnen dann nicht besser ging, dürften sie sich einen Psychotherapeuten suchen. Die Krankenkassen könnten dadurch eine Menge Geld einsparen und es ließe sich vermeiden, dass Menschen, denen Sport gut hilft, anderen den Behandlungsplatz blockierten, dachte Sybille während dieser Vorträge und hatte ihre böse Zunge gerade eben noch im Zaum gehalten.

Die Referenten wussten ohne Zweifel interessante Dinge zu vermitteln. Aber sportliche Betätigung konnte immer nur ein Versuch der Vorbeugung und eine wichtige Ergänzung sein. Heilen konnte Sport die kranke Psyche nicht aus sich selbst heraus.Sybille waren die dargestellten Ansichten zu einseitig.
Natürlich konnten Studien ergeben, dass ein großer Anteil Menschen von Sport eindeutig profitieren konnte. Aber mit Sicherheit nicht alle Menschen gleichermaßen und von diesem Anteil sprach man nicht. Man stellte den positiven Anteil über alles und verallgemeinerte.

Von draußen jenseits der geschlossenen Jalousien hört sie jetzt das Leben. Die Nachbarkinder sind auf dem Weg zum Fußballplatz. Ihr helles Kinderlachen führt zurück in eine Zeit, in der Frühling und Sommer noch unbeschwert auf der Haut zu spüren waren und die Seele wohltuend zu streicheln wussten. Damals kannte Sybille die vielen Menschen nicht, die durch ihre Ignoranz und Überheblichkeit Menschen auf grausame Weise traumatisieren konnten: die Therapeutin, die Ausbildungsstätte für Psychotherapeuten, die Kammer, die Bezirksregierung und den Medizinischen Dienst, über dessen Aussagen Stillschweigen zu wahren war …
Menschen und Behörden, die das Leben aus denen saugen, die dringend Hilfe und Anerkennung ihres Traumas brauchen, für das trotz aller Verfehlungen niemand verantwortlich sein wollte. Dagegen konnten weder Bewegung noch sportliche Betätigung etwas ausrichten. Sybille hatte es in dieser Zeit verstärkt versucht.

Die Sonne scheint noch immer. Die Vögel zwitschern. Sie brechen in ein neues Leben auf. Ein wunderschöner Frühlingstag. Sybille kann nicht mehr.

Sabine Schemmann, Freie Erzählungen April 2012

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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