Literatur-Hotel-Preis 2011: Guido Lickfeldt "Der Perlenvogel"

Guido Lickfeld

Es war ein kalter Winterabend. Meine Freundin Christine und ich beschlossen nach einem Kinobesuch noch ins Restaurant „Voltaire“ einzukehren und ein ausgiebiges Mahl zu uns zu nehmen.
Wir wurden nach unserer Ankunft freundlich begrüßt und nachdem wir unsere Mäntel abgelegt hatten, führte uns der zuvorkommende Ober zu einer kleinen Nische am Ende des Raumes, wo Christine und ich Platz nahmen.
Nach eingehendem Studium der Speisenkarte entschieden wir uns schließlich für eines der zahlreichen Menüs sowie für einen leichten, trockenen Weißwein. Die Speisenkarte bei Seite gelegt, schaute ich mich ein wenig im Raume um. Es war schon kurz vor Mitternacht und daher war die Zahl der Gäste nicht mehr allzu groß. Die wenigen, die da letzte Hand an ehemals ansprechend dekorierte Teller legten oder bei leisem Gespräch letzte Schlucke im Glase schwenkten, hielten sich eher im vorderen Teil des Raumes auf.
Zwei Tische von uns entfernt saß allerdings ein älterer Herr in einem viel zu großen grauen Anzug. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Wasserglas, an dem er hin und wieder nippte. In seiner Hand aber hielt der alte Mann einen kleinen Vogel, der leise schnatterte und vor sich hin piepste und dabei ab und an sanft mit seinen Flügeln schlug.
Nach einer Weile kam der Ober und nahm unsere Bestellung auf. Christine und ich unterhielten uns über den morgigen Tagesablauf, denn wir hatten vor uns in wenigen Wochen zu verloben und wollten am nächsten Tag zu einem Juwelier, um die Ringe für unsere Verlobung auszusuchen. Es gab noch so vieles zu bedenken, wie die Feierlichkeiten zu gestalten seien und ob wir denn diesen oder jenen nun einladen sollten und dergleichen mehr.
Schließlich kam der Ober mit unserem Essen, und wünschte uns wohl zu speisen. Alles war appetitlich angerichtet und es schmeckte uns beiden so vorzüglich, dass wir uns entschlossen, dieses Restaurant öfter zu besuchen, zumal uns auch das Ambiente ausgesprochen gut gefiel.
Während wir aßen und tranken, schaute ich immer wieder zu dem alten Mann, der in seiner Tasche wühlte, ein paar Brotkrumen daraus hervorzauberte und dem Vogel zu fressen gab.
Zwischenzeitlich kam der Ober nochmals an unseren Tisch und fragte mich, ob meine Begleitung und ich noch etwas wünschten und ob es meiner Freundin und mir denn mundete. Ich nutzte die Gelegenheit und fragte den Ober, wer denn der alte Mann dort im grauen Anzug mit dem Vogel sei. Der Ober schaute sich um und sagte, dass er keinen alten Mann und schon gar keinen Vogel sehen könne, zumal der Aufenthalt von Tieren in einem Restaurant auch nicht gestattet sei.
Etwas irritiert entschuldigte ich mich beim Ober und ich glaube, mir stieg schon ein wenig Schamesröte ins Gesicht, als ich noch eine Flasche Wein bestellte, nur um ihn wieder los zu werden.
Christine, die mit dem Rücken zu dem Mann saß, hatte meine Unterredung mit dem Ober zwar verfolgen, doch deren Sinn zuerst nicht verstehen können und fragte mich sogleich was denn vorgefallen sei, denn sie sah mir wohl meine Verwunderung an. Ich erzählte es ihr und natürlich drehte sie sich sofort zu dem Alten um und sagte, das sei aber ein besonders putziger bunter Vogel, denn sie mochte Tiere sehr gerne. Aber warum behauptete der Ober steif und fest, er könne keinen alten Mann mit einem Vogel entdecken, der doch aber keine zehn Schritte von uns entfernt und vollkommen unversteckt an seinem Tische saß?
Doch ehe wir uns noch darauf einen Reim machen konnten, landete plötzlich der kleine Vogel, flatternd und mit leisem Piepsen, mitten auf unserem Tisch. Er schaute hastig nach hier und da und tippelte schließlich flink auf meinen Teller zu und bevor ich noch hätte reagieren können, stibitzte er auch schon frech eine Erbse. Er flog sofort auf und davon, drehte eine kleine, kecke Runde über unseren Köpfen und landete, gerade so, als wäre nichts gewesen, zurück auf der Hand des alten Mannes.
Christine und ich schauten uns aus großen Augen und mit weit geöffnetem Mund an. Doch kaum, dass wir die Sprache wieder gefunden hätten, trat auch schon der alte Mann in seinem viel zu großen grauen Anzug an unseren Tisch, bat um Verzeihung und sagte, sein Vogel habe uns etwas weggenommen und er würde es uns gerne wiedergeben.
Der alte Mann hielt mir seine Hand entgegen und sagte mit leiser Stimme, ich solle es ruhig nehmen und legte mir eine riesengroße Perle, die im Kerzenlicht rötlichweiß schimmerte, in die Hand. Dies solle von nun an unser Glücksbringer sein, wünschte uns für die Zukunft alles Gute und löste sich mitsamt dem Vogel von einem Moment auf den anderen im Nichts auf.
Unser beider Erstaunen und sicherlich auch Erschrecken lässt sich wohl kaum beschreiben und wir mochten unseren Augen nicht trauen. Und doch, wir hatten es ja gemeinsam erlebt: Es konnte kein Traum gewesen sein!
Immer wieder versicherten wir uns dessen, was wir gerade zuvor erlebt hatten und kamen freilich zu keinem Schluss. Erst als der Ober an unseren Tisch trat und uns höflich darauf hinwies, dass man nun doch bald schließen wolle, wurden wir gewahr, dass wir die allerletzten Gäste im Raume waren und dass schon der frühe Morgen anzubrechen drohte. Eilig bezahlte ich die Rechnung, ließ die bestellte Flasche Wein einpacken und machte mich mit Christine auf den Heimweg.
Schon am gleichen Morgen, nach einem kurzen und unruhigen Schlaf, suchte ich den besten Juwelierladen der Stadt auf, um die Perle einer eingehenden Begutachtung unterziehen zu lassen.
Wie mir der Juwelier mit salbungsvollen Worten mitteilte, handelte es sich um eines der schönsten und wohl auch kostbarsten Exemplare, das ihm je unter die Augen geraten sei, und überhaupt sei diese Perle von so außergewöhnlichem Reiz, dass wohl ihresgleichen keine zweite auf der Welt zu finden sei.
Ich beauftragte ihn, kunstgerecht eine Öse anzubringen und dazu passend eine feingliedrige Kette aus reinstem Gold anzufertigen. Beides ließ ich aufs Kostbarste verpacken und schenkte es Christine zu unserer Verlobung.
Und seit diesem Tage trägt sie diese Kette mit der Perle an ihrem Hals. Diese Perle hat nicht nur ihr, sondern auch mir schon viel Glück gebracht.

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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