Literatur-Hotel-Preis 2011: Oliver Peters "Warten auf Lenz"

1. Dinslakener Literatur-Hotel-Preis-Träger 2010 Oliver Peters.
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  • hochgeladen von Caro Dai

Zum Thema Jahreszeiten habe ich zwei Neuigkeiten. Eine Gute und eine Schlechte. Zuerst die Angenehme. Nach jedem tristen Winter kommt ein wärmender Frühling. Die nicht so schöne Seite: Leider kommen danach die drei üblichen Spielverderber an die Reihe.
Sommerloch. Herbstdepression. Winterschlaf.

Du stehst morgens auf und die Sonne lacht Dir ins Gesicht. Deine einzige Möglichkeit ist das Zurücklächeln. Die Sonnenstrahlen bringen Deine Glückshormone in Schwung. Nicht mal Dein Mozarellateint kann nun Deine Laune stoppen. Du willst den Schub noch steigern, indem Du Dir Kaffee gönnst. Massen an Kaffee und vielleicht ein Stück Kuchen. Nein, bestimmt (!) ein Stück Kuchen! Oder gar zwei. Der Tag ist Dein Freund. Frühling ist geil.
Du bist so genial drauf, dass Du direkt zum Supermarkt um die Ecke startest und Putzzeug und Müllbeutel einkaufst. Heute wird alles anders; deine Bude wird entrümpelt. Es soll so sauber werden, dass nicht mal Deine Mutter was zu meckern hat. Vielleicht kannst Du nachher sogar wieder Frauen zu Dir einladen. Echte Frauen! Ja, der Frühling macht es möglich.
Der Frühjahrsputz ist im vollen Gange. Du schreibst einige SMS an Deine Freunde, um anzugeben. Deiner Ex schickst Du die Nachricht gleich zweimal. Die wird sich schon ärgern! Hätte die mir mal nicht den Laufpass gegeben! Denn nun ist die scheiß Fensterbank sauber! Eine SMS kommt sogar zurück. Von Bernd, dem alten Kupferstecher. Der will heute einen trinken gehen. Bringt seine neue Perle mit. Vielleicht hat die ja heiße Freundinnen! Das wäre doch mal was. Kann ich direkt mit meiner sauberen Wohnung imponieren. Gott, ich liebe den Frühling!

Es ist viel zu warm, um aufzustehen. Es ist aber auch zu warm, um liegen zu bleiben. Die Klamotten kleben an Dir. Die Boxershorts lässt sich nur unter größter Anstrengung aus Deiner Hinternfalte ziehen. Und warum ist es überhaupt schon so hell? Es ist erst verdammte 5.30 Uhr!
Du hast Urlaub genommen. Weil man das so macht im Sommer. Doch irgendwie hat Du vergessen, zu verreisen. Sogar für den gewohnten Trip nach Balkonien scheinst Du nicht vorbereitet. Außer Deine Freundin. Die war klüger als Du und verreiste mit ihrer Arbeitskollegin. Nicht mal eine Karte bisher. Dabei ist sie seit zwei Wochen wieder im Lande.
Alles scheint anstrengender im Sommer. Beinahe bist Du heute auf dem Treppenansatz kollabiert, weil Du unbedingt die Zeitung reinholen wolltest. Dabei steht im Sommer eh nichts drin. Gestern berichteten sie über das Loch-Ness Monster. Mal wieder. Übrigens immer noch nichts Neues über Nessy.
Als Du kleiner warst, konntest Du Dich über das ZDF Ferienprogramm freuen. Nun kackst Du ab, weil Du den ganzen Tag Wiederholungen sehen musst. Alles pausiert. Sogar Dein Alltag. Hättest Du nur einen Balkon! Dann könntest Du abends den Sternen huldigen und wie alle Typen grillen. Was soll man auch sonst im Sommer machen?
Du starrst jeder Frau hinterher. Das Dumme daran: Sie merken es. Du redest Dir ein, dass sie ja beabsichtigen, wenn sie schon so rumrennen. Leider sagt deren Blick was anderes. Du kommst Dir pervers vor. Bleibst lieber daheim. Ist ja eh viel zu heiß draußen. Dein Teint ist von schneeweiß in Hummernähe gerückt. Warum wird es nur so spät dunkel? Die Tage sind zu lang für kurzweilige Typen wie Dich.

Grau, grau, grau. Schwere Regenwolken trüben die Sicht. Regnet es? Das kann doch nicht sein! Es regnet seit Tagen Hunde und Katzen. Du willst da nicht durch. Keine Lust auf nasse Füße und schlechtgelaunte Leute. Du willst der Einzige mit scheiß Laune sein! Außerdem ist Dein Schirm kaputt. Seit vielen Jahren. Aber die Unlust liegt schwer auf Deinen Schultern. Ob man da nicht besser im Bett bleiben sollte? Das Telefon ausstöpseln? Einfach so tun, als ob man gar nicht da sei? Keine Gute Idee, denn sonst ruft Deine Mutter die Polizei. Könnte peinlich enden. Gerade, wenn Du zu faul warst, aufzuräumen oder Dir irgendwas anzuziehen. Wie die letzten Wochen zuvor auch.
Welchen Tag haben wir überhaupt heute? Haben die Geschäfte auf? Das wäre wohl der einzige Gang, den Du hinter Dich bringen müsstest. Denn die Pringles und das Bier sind alle. Wenigstens kannst Du Dir das Rasieren sparen. Denn seit dem Rückzug Deiner Freundin kannst Du endlich wie ein Holzfäller rumlaufen. Passt sowieso super, da Du diese kahlen Riesenäste, die zuvor richtige Bäume waren, sowieso nicht leiden kannst. Baum fällt! Und wenn nicht der, dann irgendwas anderes. Leider wirst Du das Gefühl nicht los, dass das Dich mit einschließt.
Du spürst den Blues. Er wird mit jedem Glas immer lauter. Es hat was Gutes, im Jammertal zu verweilen und im Selbstmitleid abzutauchen. Das Blöde ist nur, dass man sowas selten ohne Rechnung bekommt. In Form eines Katers. Somit nimmst Du Dir vor, nie wieder auf so dumme Ideen wie Besäufnisse zu kommen. Doch je später der Abend, desto gewaltiger holt Dich das Fazit des Tages ein. Das war kein guter Tag. Mach noch was draus. Trink noch einen. Oder zwei. Drei Heulkrämpfe und einen oberpeinlichen Anruf bei Deiner Ex später wird Dir eins klar. So geht das Drama nicht weiter. Was Du brauchst, ist eine Fototapete mit Sommermotiv.

Die Heizung ist im Dauerbetrieb. Du trägst Socken im Bett. Simpsons-Socken, weil sie am wärmsten halten. Dein Wecker macht quälend auf sich aufmerksam. Ist es wirklich nun an der Zeit aufzustehen? Der Tag ist nicht von der Nacht zu unterscheiden. Zum Glück gibt es die Schlummerfunktion. Gefühlte zwei Minuten und reale dreißig Minuten später stehst Du in der Küche. Total orientierungslos. Du wirfst einen Blick aus dem Fenster und siehst gegenüber einen übertrieben grellen Weihnachtsmann. Dir fällt auf, dass Du kaum jemanden kennst, der wirklich scharf auf die Feiertage ist. Denen steht immer nur Stress, Stress, Stress auf der Stirn geschrieben. Sie sind froh, wenn der Trubel vorbei ist und sie die Verwandten wieder zurück in den Osten schicken können. Du für Deinen Teil legst Dich einfach wieder hin. Schläfst noch eine Runde. Und träumst.
Träumst von grünen Wiesen. Mädchen in blumigen Kleidern mit weiteren Blumen im Haar, wie sie – wer hätte das gedacht – Blumen pflücken. Träumst von Spaziergängen im Wald, der gerade erwacht. Von Schmetterlingen, die auf Deiner Nase tanzen. Fühlt sich gut an. So muss sich der Frühling anfühlen. Du kannst es kaum erwarten. Während Du Dich noch einmal durchs Kissen wühlst, um Dich mehr auf das Blumenmädchen zu konzentrieren, klingelt Dein Telefon. Deine Mutter. Sie fragt, ob Du zum Heiligen Abend rum kommst. Oder ob sie lieber die Polizei rufen sollte. Den Rest hörst Du nicht mehr. Stattdessen wartest Du Blumen pflückend auf den Lenz. (In leicht gekürzer Fassung im Niederrhein Anzeiger erschienen KW 15/11)

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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