Karli- Scharli

Weihnachten
irgendwo am Niederrhein vor vielen Jahren

Karlchen war knapp sechs. Ein mageres Kind mit dunklen, widerspenstigen Haaren voller Wirbel. Sein schmales Gesicht wurde dominiert von braunen Augen, die durch die dicken Brillengläser unverhältnismäßig groß in dem kleinen Kindergesicht standen. Ein Bügel fehlte an der unförmigen Brille. Karlchen hatte ihn bei einer Rauferei mit den großen Jungs aus der Nachbarschaft verloren. Sie hatten ihn wieder gehänselt, wie immer, wenn sie ihn sahen und er ihnen nicht entgehen konnte. Karli – Scharli! Karli – Scharli ! Sie hatten ihn zwischen sich hin und her geschubst und ihm Beinchen gestellt. Und sie hatten gegrölt, als die Brille dabei in den Dreck fiel und Karlchen mit einem verzweifelten Satz versucht hatte, sie zu retten. Ohne sie war er hilflos. Gerade, als er seine Hand danach ausstrecken wollte, trat einer der Jungs zu. Es knackte kurz, und der Bügel brach entzwei.
Seitdem hielt ein Gummiband die Brille auf der Nase.

Karlchen schlich vorsichtig an den kaputten Häusern entlang, hielt sich dabei dicht an den Mauern. In den Trümmern etwas weiter entfernt hörte er die Stimmen der anderen Kinder. Auf keinen Fall durfte er ihnen begegnen. Heute schon gar nicht. Es war Weihnachten und er wollte rechtzeitig zuhause sein. Die Mutter hatte geheimnisvoll getan und ihre Augen hatten geleuchtet. Bestimmt war sie unterwegs, um etwas Besonderes zu organisieren. Er fühlte eine Erregung in sich aufsteigen und beeilte sich, nach Hause zu kommen.

Zuhause war der große Platz mit dem aufgetürmten Altmetall rechts und links, rostig, scharfkantig und gewaltig. Einmal, als er noch klein war, hatte Karlchen versucht, ein blinkendes Stück Blech, in dem sich die Sonne spiegelte, von ziemlich weit unten heraus zu ziehen. Mit Getöse, einem Gewitter gleich, war der Berg Metall ins Rutschen gekommen und nur dank der Geistesgegenwart seiner Großmutter hatte er überlebt. Die Tracht Prügel, die er hinterher von ihr bezogen hatte, allerdings fast nicht. Die Mutter hatte still dabei gestanden, mit diesen traurigen Augen wie immer, und hatte nur leise gefragt: „muss das denn sein? Er ist doch noch so klein…“
„Ja. Das muss sein. Er muss lernen. Er kann gar nicht früh genug anfangen, zu lernen. Gerade er, dieser, dieser…Bastard!“

Wie immer, wenn sie an diese Stelle kam, presste sie die schmalen Lippen fest zusammen, wie um lieber an diesem einen Wort zu ersticken, als es auszusprechen. Aber sie spuckte es aus. Immer. Voller Hass. Und sah ihn dabei an.

Mit dem Gedanken an die strenge Großmutter, die ihm immer irgendetwas vorzuwerfen schien, wurden Karlchens Schritte langsamer. Er schlich durch die langen Schatten auf dem Platz, die Augen resigniert auf den Eisenbahnzug gerichtet, der an der Kopfseite quer zum Altmetall stand. Hier wohnten sie. Wenn die Sonne schien, strahlte der Zug in freundlichem Silber. Aber jetzt war es schon früh dämmrig, bedrohlich schien er da zu stehen und auf ihn zu warten. Und in ihm die Großmutter.

Drinnen brannte ein trübes Licht. Karlchen tastete sich an die Fenster heran und zog sich etwas hoch. Ob die Mutter schon zuhause war?
In der Küche hockte die Großmutter und schnipselte Steckrüben in einen gusseisernen Kessel. Steckrüben! Och, ne, schon wieder! Immer diese blöden Steckrüben!

Die Mutter war offensichtlich noch nicht zurück. Vielleicht hatte sie ja einen Bauern entdeckt, der ihr etwas Milch eintauschen würde. Für Weihnachten. Oder ein paar Eier!
Bei dem Gedanken an heiße, gekochte Eier musste Karlchen schlucken und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er beschloss, draußen auf seine Mutter zu warten.

Der Junge drückte sich in eine Nische zwischen Metall und Zug, scheuchte eine Ratte beiseite und zupfte gewohnheitsmäßig an den Rändern seiner kurzen Hose. Immer, wenn er sich hinhockte, rutschte sie hoch und gab ein Stück blanke Haut frei zwischen den braunen Wollstrümpfen und seiner fadenscheinigen Hose. Es war kalt, er schauerte und wünschte sich, dass seine Mutter bald käme und er mit ihr zusammen rein gehen könnte.

Seine Mutter hieß Elsa. Fräulein Elsa Guss. Sie war schön, so weich und warm. Er liebte sie sehr. Wenn er bei ihr sein konnte, war alles gut. Ihr konnte er alles sagen, sie alles fragen, was er nicht verstand und was ihn bedrückte. Allerdings kam es nur sehr selten vor, dass sie abends eng aneinander gekuschelt in der Dunkelheit ihres Waggons leise miteinander flüsterten.
Warum bin ich so braun? hatte er eines Tages gefragt. Und warum seh ich so anders aus als die anderen Kinder? - Und warum - warum habe ich keinen Vater?
„Aber du hast einen Vater“, hatte sie gesagt. Heftig. „Natürlich hast du einen Vater. Einen sehr lieben sogar. Und er ist auch braun. Sogar noch mehr als du, - nur, - der ist nicht da. Der ist in Amerika. Ganz weit weg. Sieh mal“, sie hatte gestockt und dann irgendwie lahm geschlossen: „dein Großvater ist ja auch nicht da. Der ist im Krieg geblieben. Und dein Vater musste eben nach Amerika zurück. Aber er kommt uns bestimmt bald holen.“ Sie drückte den kleinen Kerl an sich und wiegte ihn beinahe heftig: „Ganz bestimmt. Du wirst sehen.“

+++++++++

„Karlchen! Karlchen! Wo steckst du? Bist du hier irgendwo?“ Mutters Stimme hallte über den Platz. „Komm, schau her, was ich erstanden habe!“
Karlchen rieb sich die Augen, war er etwa eingedöst? Vorsichtig kroch er zwischen dem Gerümpel hindurch auf den inzwischen fast dunklen Platz.
Da stand die Mutter und zog hinter ihrem Rücken ein kleines Tannenbäumchen hervor:
„Komm her, mein Schatz", rief sie und ihre Stimme klang beinahe übermütig, "komm! Schau, was ich gekriegt habe! Ist das nicht wunderbar?"

Sie hielt ihrem Sohn das Bäumchen hin, dann lehnte sie es gegen eine rußgeschwärzte, vorstehende Kante, schwang Karlchen auf ihre Arme und drückte ihm einen herzhaften Kuss auf die Nase:

"Fröhliche Weihnachten, mein Sohn!"

© Christel Wismans 2010

Autor:

Christel Wismans aus Emmerich am Rhein

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