"Mit Alkohol konnte ich die Sonne andrehen!"

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„Ich? Ein Alkoholiker? Das kann doch nicht sein - abhängig von einem Getränk? Das habe ich mich immer wieder gefragt“, berichtet Michael (49) aus Essen. Auf und ab sei er dabei gelaufen in seiner Küche vor dem Kühlschank - denn darin stand ja die nächste Flasche Bier! Und was haben Sie dann gemacht? „Die nächste Flasche natürlich auf - ich musste mich ja beruhigen!“

Die gute Nachricht zuerst - Michael hat es geschafft. Nein, noch nicht die Sucht zu überwinden. Aber er hat es geschafft, sich selbst zu erkennen und die Notbremse zu ziehen. Die Notbremse, um aus dem Teufelskreis bestehend aus Alkohol, Stress bei der Arbeit, der Angst, aufzufallen und in hellen Momenten der Angst vor der Zukunft, auszusteigen. Mit Hilfe eines Psychologen hat er den Weg ins Heidhauser Kamillushaus gefunden - einer Fachklinik spezialisiert auf Suchterkrankungen. Der Anfang ist gemacht. Bis dahin durchlebte Michael so ziemlich alle Höhen und Tiefen, die ein Suchtkranker erleben kann. „Schon in meiner Kindheit spielte Alkohol ein große Rolle“, erzählt Michael. Die Eltern betrieben eine klassische Kneipe. „Früher habe ich immer gedacht, der Vater trinkt halt oft einen über den Durst. Heute sehe ich, dass er Alkoholiker war. Wenn er so richtig voll war, hat er meine Mutter und ich mich häufig geschlagen.“
Von den Eltern nicht unterstützt, wurde der Sohn schulisch durchgereicht - bis zur Sonderschule. „Ich habe mich immer gefragt, was vielleicht möglich gewesen wäre“, schmunzelt der 49-jährige nachdenklich. In dieser Zeit hatte er selbst den ersten Kontakt mit Alkohol. „Wir waren jung - und Bier gehörte irgendwie zum feiern dazu. Wie ein ganz normales Lebensmittel!“
Über die Jahre hielt der Alkohol immer mehr Einzug in sein Alltagsleben - ein schleichender Prozess. „Und das ist das Gefährliche! Man steigert sich ja ganz langsam. Und eines muss man auch dazusagen: Es kommt nicht auf die Menge an - sondern viel mehr auf die Regelmäßigkeit!“
Wie viele Alkoholiker entwickelte auch Michael eine gewisse Systematik und Rituale. „Ja sicher - so ab 14 Uhr ging das erste Bier - heimlich an der Bude beispielsweise. Und wenn ich zu Hause war, bin ich oft direkt wieder los. Mit dem Hackenporsche neues Bier holen für den Abend.“
Nahezu perfekt lasse sich der Alkohol ansonsten in den Alltag integrieren. „Auf Familienfesten beispielsweise - da wird ja bereits bei der Ankunft die erste Flasche Sekt aufgemacht. Und dann halt locker weitergetrunken. Ich habe nur immer darauf geachtet, dass ich nicht so rumtorkel. Sie glauben gar nicht, wie sehr Alkohol von der Gesellschaft akzeptiert wird. Und gerade Männer und Alkohol - das gehört für viele als Bild einfach zusammen - auch suggeriert von der Werbung.“
Immer mehr habe sich sein Leben an der Sucht orientiert - bis einfach viele Dinge nicht mehr funktionierten und die Ehe in die Brüche ging. „Ich habe mir immer noch nicht eingestanden, dass ich abhängig bin. Mit Alkohol war einfach alles einfacher und schöner. Die Probleme weiter weg und man selbst wie betäubt. Und trotzdem glücklich - mit Alkohol konnte ich die Sonne andrehen.“
Bis vor fünf Monaten - ein guter Kumpel war an einer Krebssorte verstorben, die besonders häufig Trinker dahinrafft. Ein Auslöser? „Sicher auch - ich habe angefangen, nachzudenken, fühlte mich allein - und bin dann vor dem Kühlschrank auf und ab gelaufen.“ Bin ich wirklich abhängig? Kann ich ohne Alkohol den Tag nicht überstehen?
Nach der Einsicht folgte der schwere Gang zum Psychologen. „Dort war ich bereits in Behandlung - wegen meiner Angstzustände. Er hat bestimmt schon gewusst, worum es bei mir wirklich geht. Eine Visitenkarte vom Kamillushaus hat er mir ans Herz gelegt - rufen Sie da an, wenn Sie möchten!“
Auch kein einfacher Weg - aber er ist ihn gegangen - ganz alleine. Drei Wochen Entgiftung liegen mittlerweile hinter ihm, ein Anfang ist gemacht.
Warum das Gespräch mit dem Kurier? „Ich finde, gerade die jungen Menschen sollten wissen, wie gefährlich Alkohol ist. Die Grenzen sind fließend - und schneller, als man denkt, kann man nicht mehr ohne.“ Also den Alkohol verbieten? „Nein - sicher nicht. Was man verbietet ist für die Jugendlichen ja noch spannender. Lieber warnen und zeigen, was einem mit Alkohol passieren kann - so wie mir!“

Hintergrund:
Das „Kamillushaus“ in Heidhausen, Heidhauser Straße 273, ist eine Spezialeinrichtung, die sich seit Jahrzehnten der Therapie suchtkranker Menschen widmet. Als erste Anlaufstelle für Hilfesuchende dient die Institutsambulanz, die der frühen Erkennung von Suchterkrankungen dient. Sie steht allen Personen offen, die bei der Bewältigung von Suchtproblemen professionelle Informationen und Hilfe suchen. Erreicht werden kann die Institutsambulanz unter der Rufnummer 84060.

Sozialpädagoge Michael Steven vom Kamillushaus mit Michael.
Autor:

Julia Colmsee aus Essen-Süd

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