Am Ende des neuen Dialogformates zwischen Verwaltung und Bürgern „Lass uns reden“ gab es gute Ergebnisse
Alltagsexperten kommen zu Wort

Mit einer kleinen Fragerunde, nach Alter, Bildungsstand, Leben in Gelsenkirchen und mehr, lockerte Moderator Axel Jürgens die Stimmung auf. Foto: Gerd Kaemper
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  • Mit einer kleinen Fragerunde, nach Alter, Bildungsstand, Leben in Gelsenkirchen und mehr, lockerte Moderator Axel Jürgens die Stimmung auf. Foto: Gerd Kaemper
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Oberbürgermeister Frank Baranowski hatte per Zufallsgenerator 2000 Gelsenkirchener zu einer Art „Townhall-Meeting“ eingeladen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Etwa 160 Bürger waren der Einladung gefolgt und vermutlich genauso neugierig und nervös wie der OB, weil niemand der Anwesenden wusste, ob die Idee des Dialogformates „Gelsenkirchen - Lass uns reden“.

In seiner Begrüßung stellte Frank Baranowski gleich klar, worum es bei dieser Zusammenkunft gehen sollte: „Als Dezernent, als Oberbürgermeister ist man es gewohnt, viel zu sprechen. Das wollen wir - die Beigeordneten und ich - heute nach Möglichkeit nicht. Heute geht es für uns vor allem darum zuzuhören. Genau hinzuhören, wenn Sie als Expertinnen und Experten für Ihre Stadt, für Ihr Viertel Ihr Wissen und Ihre Erfahrungen mit uns teilen. Wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen, konstruktiv und vor allem - und das scheint heutzutage ja schon eine geradezu abgefahrene Idee zu sein: - von Angesicht zu Angesicht. So richtig „in echt“! Ohne Nickname, ohne Account. Vor allem aber ohne die Aufgeregtheiten und die Schärfe, die solche Diskurse in den sozialen Medien häufig auszeichnen.“
Damit stimmt er die Bürger darauf ein, dass es ihr Abend sein würde und ihre Meinung gefragt ist über eben genau die Dinge, die unsere Stadtgesellschaft bewegen. Und die Anwesenden ließen sich darauf ein, worüber der ein oder andere von ihnen selbst erstaunt war.

Eine Mischung so bunt wie die Stadt selbst

Allerdings war dieses Gelingen auch der guten Moderation durch Axel Jürgens, der die Gelsenkirchener durch seine einfühlsame Art locker machte und offen für Neues. So fragte er in einer ersten Runde nach, ob man sich unter den Anwesenden kennen würde? Was bei 25 Personen zutraf, aber auch keine Überraschung ist, denn in mancherlei Beziehung ist Gelsenkirchen eben ein Dorf.
Durch seine Fragen kristallisierte sich heraus, dass das Alter der Gäste von 17 bis 75 reichte, wobei die Gruppe der 45- bis 65-Jährigen die größte darstellte. Die Stadtbezirke Ost, Buer und Gelsenkirchen-Mitte waren stärker vertreten als West und Gelsenkirchen-Süd, obwohl der Zufallsgenerator die Gäste querbeet ermittelt hatte. Die meisten der Gäste leben seit mehr als 20 Jahren in Gelsenkirchen und der größte Anteil hat ein Gymnasium besucht.
Unter den Anwesenden befanden sich auch die Dezernenten der Stadt, Annette Berg, Karin Welge, Martin Harter und Luidger Wolterhoff sowie die Politiker von CDU Birgit Lucht, SPD Klaus Haertel und Martin Gatzemeier von den Linken. Doch sie alle waren, wie der Moderator erklärte nur da, „um die Ohren zu spitzen und zu hören, was Sie bewegt. Wenn Sie das nicht möchten, schicken Sie sie einfach weg. Das ist heute Ihr gutes Recht.“
Inga Clever trug mit „Lieber kleiner Bruder“ einen Text der leider verhinderte Poetry Slammerin Ella Anschein vor. Darin ging es darum, dass Ella ihrem achtjährigen Bruder erklären will, dass es manchmal einfach besser ist, mit einem Menschen von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren als über soziale Netzwerke. Der Text appellierte daran, lieber Teil der realen Welt und Gesellschaft zu sein, als der virtuellen mit all ihren Schlichen, Tücken und nicht zuletzt Fake News.
In einem kurzen Film kamen Gelsenkirchener zu Wort, die auf der Straße danach befragt wurden, worüber für sie Redebedarf in Gelsenkirchen bestehen würde. In den Anregungen fanden sich viele der Anwesenden wieder.

Miteinander ins Gespräch kommen

Nach einer kurzen Fragerunde des Moderators, bei dem dann auch die Gäste ihre Ansichten zu dem was sich ändern müsste in Gelsenkirchen kund tun konnten, forderte er sie auf, mit dem den meisten unbekannten Nachbarn ins Gespräch zu kommen. Ein junger Mann erklärte im Anschluss: „Ich habe zuerst gedacht: Oh, Hilfe, das will ich nicht. Aber ich muss sagen, es hat Spaß gemacht mit dem anderen zu reden!“
In den Gesprächen ging es um Respekt, Toleranz und kulturelle Neugier und jeder hatte die Chance, seinem Sitznachbar eine Begebenheit zu schildern. So erzählte ein Herr aus Buer, dass er ein Problem damit hätte, wenn persönliches Recht über das der Allgemeinheit gestellt würde: „Ich wollte meine Frau vom Arzt abholen, da blockierte ein offensichtlich südländischer Autofahrer mit seinem quer auf der Fahrbahn stehenden Auto die Straße und quatschte wohl mit einem Bekannten. Als ich los wollte, habe ich ihn angehupt. Daraufhin sprang er aus dem Auto und kam schreiend auf mich zu. Das führte dazu, dass ich auch laut wurde. Das hätte nicht sein müssen.“
Ein anderer Gelsenkirchener klagte über das fehlende Sprachvermögen: „Ich fühle mich in Bismarck wie in einem Türken-Ghetto. Ich spreche aber kein türkisch, also komme ich mit niemandem ins Gespräch. Auf der anderen Seite gibt es aber Flüchtlinge aus Syrien, die gern deutsch lernen würden, es aber nicht dürfen, weil sie noch keine Anerkennung als Asylbewerber haben. Das ist doch eine verkehrte Welt.“

Respekt ist keine Einbahnstraße

Eine Frau beklagte, dass Erziehung leider immer mehr aus der Familie verschwindet und in den Kindergarten und die Schule verlagert wird. „Aber gerade in der Familie sollte die Erziehung hin zu Respekt und Toleranz eine Rolle spielen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr sich bei diesen Werten ein Wandel vollzogen hat. Das wird mir besonders deutlich, wenn ich selbst schon bei „Orange“ über die Ampel fahre und im Rückspiegel sehe, dass mir noch fünf Autos folgen als es schon dunkelrot sein dürfte.“
Die nächste Aufgabenstellung des Moderators bestand darin, dass sich jeweils zwei Gäste zusammen finden und gegenseitig interviewen sollte zu persönlichen Erfahrung zu Respekt, Toleranz und kultureller Neugier. Dazu gab es Klappbretter, Stifte und ein paar Stichworte wie Beschreiben Sie die Begebenheit oder Situation, wer war beteiligt, was war Ihre Rolle? Aber es ging auch darum, wie man sich selbst gefühlt hat und glaubt, wie es dem anderen erging. Und natürlich wurde nach einem Weg gesucht, um solche Situationen zu vermeiden oder zu einem guten Gelingen zu führen.
Sieben Minuten Zeit hatte jeder der beiden Partner, um seine Geschichte zu erzählen. So eingestimmt bildeten sich aus den Zweigruppen nun Sechsergruppen, die sich an dazu aufgestellten und mit Stühlen umgebenen Tafeln einfinden sollten, um ins Gespräch zu kommen.
Hier ging es darum, gute Erfahrungen auszutauschen, Empfehlungen zu geben, die für ein besseres Zusammenleben hilfreich sein könnten und dann ihrem Plakat einen Titel zu geben. Erstaunlich war auf diesen Plakaten wie oft der Wunsch nach Orten der Begegnung auftauchte. Aber auch Neugierde auf Neues, Sprachbarrieren überwinden, miteinander ins Gespräch kommen, lächeln, Hilfsbereitschaft und freundlich aufeinander zu gehen waren auf vielen Plakaten als Empfehlungen zu lesen.
Am Ende waren die meisten Bürger einig darin, dass sie erstaunt waren, wie problemlos hier Alt und Jung, Zugewandert und Alteingesessen miteinander ins Gespräch gekommen sind und dabei zu den gleichen Wünschen und Hoffnungen gekommen sind. Und viele der Gäste wünschen sich, dass das hier erlebte nachhaltig wirken soll. Darum würden sie sich auch als Multiplikatoren sehen, die ihre Erfahrung anderen mitteilen möchten, um auch diesen zu zeigen: Mit Respekt geht das miteinander leben leichter; Einfach mal lächeln; Es gibt mehr Verbindendes als Unterscheidendes...

Jetzt sind Verwaltung und Politik gefragt

Oberbürgermeister Frank Baranowski zeigte sich nach gut drei Stunden Zusammenkunft, Hinhören und auch miteinander sprechen beeindruckt und versprach, dass er sich das Format auch zu anderen Themen vorstellen könnte, wie dem Verkehr oder Klimaschutz. „Ich kann heute natürlich keine Antworten geben auf alles, was hier zur Sprache kam, das muss ich sacken lassen. Danke, dass Sie sich auf dieses Experiment eingelassen haben.“
Am Mittwoch, 10. Juli, ist von 17 bis 20 Uhr ein Auswertungsworkshop geplant, bei dem in kleineren Gruppen über das was zu tun ist und was die nächsten Schritte sein könnten diskutiert werden soll. Dann finden sich die Bürger in kleinen Runden auch mit Vertretern von Verwaltung und Politik am Tisch wieder um zu reden.

Autor:

silke sobotta aus Gelsenkirchen

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