Von der Uni in die Gosse

Die Mutter unterstützte die Studentin, indem sie nicht nur ein wachsames Auge auf sie hatte, sondern gleich auch die Fotos zur Reportage schoss. | Foto: Privat
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  • Die Mutter unterstützte die Studentin, indem sie nicht nur ein wachsames Auge auf sie hatte, sondern gleich auch die Fotos zur Reportage schoss.
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Aus dem beschaulichen Soest kommt Maike Frye, die durch einen Cousin auf die Westfälische Hochschule in Gelsenkirchen aufmerksam wurde und nun seit einem Semester erfolgreich und mit viel Spaß hier studiert. Mit der unten zu lesenden Reportage erfüllte sie eine Aufgabe der Erstsemester des Fachbereichs Journalismus/PR.

Der Hintergrund der Reportage

Die Idee zu dem Selbsttest hatte die junge Frau aus Soest mitgebracht, wo sich ein Redakteur auf die Straße begeben hatte, um zu schauen, was passiert und wie es sich anfühlt.
„Für die Bahnhofstraße habe ich mich entschieden, weil es die größere Einkaufsmeile ist im Vergleich zu Buer. Außerdem hatte ich hier die Hoffnung, nicht so schnell weggeschickt zu werden. In Buer ist alles irgendwie elitärer und dort gibt es gar nicht so viele Bettler“, erklärt Maike Frye.
Eine Stunde reichte der Studentin, um Material für die vorgegebenen 4.000 Zeichen zu sammeln. Und am Ende konnte sie sich über 24 von 25 möglichen Punkten für ie Semesterabschlussarbeit freuen.

Die Reportage von Maike Frye

Aber lassen wir doch Maike Frye selbst zu Wort kommen:
„In Nordrhein-Westfalen haben 16.500 Menschen kein Dach über dem Kopf und müssen sich auf der Straße durchschlagen. Maike Frye, Journalismus-Studentin der Westfälischen Hochschule, war eine von ihnen – für einen Tag. Was es bedeutet um sein täglich Brot betteln zu müssen, erlebte die 20-Jährige am 6. Januar beim Selbstexperiment in der Gelsenkirchener Fußgängerzone.

„Geh arbeiten“ giftet es von oben herab

Ein Paar hoher schwarzer Stiefeletten baut sich vor mir auf, eine blaue Jeans, eine lilafarbene Jacke. Mein Blick wandert höher. Rot geschminkte Lippen verziehen sich verächtlich und spucken es förmlich zu mir hinunter: „Geh arbeiten!“ Dann ist die ältere Frau verschwunden und lässt mich mit einem Gefühl der Scham und Verblüffung zurück.
Seit gerade einmal zehn Minuten hocke ich hier – auf den kalten, grauen Steinen der Fußgängerzone, angelehnt an die nicht weniger kalte Fassade einer leer stehenden Buchhandlung.
Abermals werde ich fast von einem Gehstock erschlagen, kurz danach beinah von einem Kinderwagen überfahren. Sie sehen mich nicht oder wollen mich nicht sehen, dabei laufen Manche nur wenige Zentimeter an mir vorbei.
Die Meisten jedoch scheinen mich anzustarren. Ihr Blick wandert von meinem zerknitterten Pappschild mit der Aufschrift „Eine kleine Spende. Danke.“ über meine kaputten Sneakers, die Jogginghose und die viel zu große grau-schwarz karierte Jacke bis hin zu meinem Gesicht. Nur kurz, vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde, dann schauen sie beschämt oder entsetzt weg. Kaum jemand sieht mir in die Augen. Ein älteres Ehepaar läuft Arm in Arm vorbei. Die Frau spricht leise, doch ich höre sie trotzdem: „Schmarotzer“. Ich möchte mir am liebsten die schwarze Wollmütze über den Kopf ziehen und in meiner Jacke versinken. Solch eine Verachtung bin ich nicht gewohnt.

Doch es geht auch ganz anders

„Tim, magst du der Frau nicht einen Taler geben?“, höre ich einen älteren Herrn sagen. Kurz darauf macht ein Paar kleiner grauer Sneakers vor meiner Dose halt und ein Euro fällt hinein. Ich schaue auf und ein blonder, circa 6-jähriger Junge lächelt mich an.
Kurze Zeit später zückt ein Mann mittleren Alters sein Portemonnaie und reicht mir lächelnd einen 5-Euro-Schein. Ich kann mein Glück kaum fassen. Er erkundigt sich nach dem Grund meines Bettelns und ist damit nicht der Erste. Es erstaunt mich, wie viele Leute ernsthaft interessiert an meinem angeblichen Schicksal sind. Ich erzähle meine bereitgelegte Geschichte. Nach einem heftigen Streit mit meiner Mutter möchte ich nach Berlin trampen, um dort bei Freunden unterzukommen. Die blauen Augen des Mannes schauen mich freundlich an, er lächelt und scheint mir die Geschichte abzukaufen. Ich schäme mich, ihm direkt ins Gesicht gelogen zu haben.
Es ist überraschend, wie weit abseits man sitzen kann und wie sehr man sich doch auf dem Präsentierteller fühlt. Sogar der Müllmann in seiner orangenen Arbeitskleidung wirft mitleidige Blicke über die Straße, während er zwei prallgefüllte Plastiksäcke hinter sich herzieht. Gefühlt scheint sich die ganze Fußgängerzone für mich zu interessieren und doch weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es nicht so ist. Ein kurzer Blick und schon bin ich wieder vergessen.

Man fühlt sich hilflos und erniedrigt

Ich höre, wie Geld in meine Dose fällt. Ein 10 Cent Stück hat die Dose verfehlt und rollt weg. Ich bin hin und her gerissen. Letztendlich krieche ich dann doch über den rauen, kaugummibefleckten Boden hinterher. „Hoffentlich hat das niemand gesehen“ ist mein Gedanke.
Kurz bevor ich meine Sachen packen will, kommt dann noch eine freundliche ältere Dame vorbei, die erstaunt sagt: „Sie sehen aber gar nicht aus wie eine Drogenabhängige.“ Sie meinte das wohl positiv, aber mir zeigte diese Aussage, was die Menschen wirklich über Bettler denken.
Eine Stunde später und 19,51 Euro reicher verlasse ich dann meinen Platz. Definitiv kein schlechter Stundenlohn, vor allem da Bettler in Deutschland sonst circa 13 Euro pro Stunde bekommen. Trotzdem hätte ich mir stattdessen lieber die vielen verachtenden Blicke und Erniedrigungen erspart. „Das Leben auf der Straße ist hart.“ – Kein leerer Spruch, sondern die Wahrheit.“

(Das Geld wurde an die Gelsenkirchener Tafel gespendet.)

Autor:

silke sobotta aus Gelsenkirchen

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