Arglos und unbedarft gegenüber Rechtsextremen?
Wie die Lokalredaktion der „Halterner Zeitung“ einem Neonazi auf den Leim geht

HALTERN AM SEE. Mit dem professionellen Anspruch der „Ruhr-Nachrichten“ aus dem Lensing-Medienhaus auf seriösen Journalismus mit zuverlässiger Recherche wollen sich Herausgeber und Redaktion von „fragwürdigen Online-Medien aus den sozialen Netzen“ absetzen. Doch jüngst leistete sich die Lokalredaktion der „Halterner Zeitung“ eine journalistische Fehlleistung ohnegleichen, als sie werbewirksam in großer Aufmachung über die Eröffnung eines neuen Tattoo-Studios namens „Asgard“ in Haltern berichtete:

Mit einem Foto und mit Zitaten sowie Werbevideo stellte sie den mit einem strafbaren SS-Wahlspruch tätowierten Inhaber namens Christopher Marowski lobend vor, der „frischen Wind in die Halterner Innenstadt“ bringe. Später musste die Redaktion in einem nachträglichen Artikel kleinlaut gestehen, dass es sich bei dem Inhaber um einen Neonazi handelte, der zuvor auf einem Rudolf-Hess-Gedenkmarsch und bei einer Rechtsrockveranstaltung der Neonazipartei „Der Dritte Weg“ gesehen wurde, bekleidet mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „HKN KRZ“, wie ein freier Journalist sorgfältig recherchiert hatte.

Diesen skandalösen Vorgang griff nunmehr der bekannte und erfahrene Medienjournalist Stefan Niggemeier, der mit zehn journalistischen Preisen ausgezeichnet wurde, in seinem medienkritischen Blog auf. Er stellte die kritische Frage an die verantwortliche Lokalredaktion: „Hätte die Redakteurin wissen müssen, wen sie mit ihrem Artikel in der Innenstadt von Haltern willkommen hieß? Hätte sie es recherchieren oder sich wenigstens die einzelnen Tattoos genauer anschauen müssen? Wäre das nicht die Aufgabe von gutem Lokaljournalismus?“ Der Grundsatz des bekannten Journalisten Henri Nannen, Stifter des gleichnamigen Journalistenpreises, lautete: “Wir recherchieren überall, notfalls auch in der Hölle“.

Arbeitsalltag in der Redaktion ermöglicht keine gründlichere Recherche?

Die Ausrede der Redakteurin: „Es wäre wünschenswert, vor einer Berichterstattung die Hintergründe der dargestellten Personen zu prüfen. Im Arbeitsalltag ist es leider nicht immer machbar und bei einer Geschäftseröffnung auch eher unüblich“. Nur wenn die Redaktion Hinweise von außen erhalten hätte, dann wäre das ein Anlass für Überprüfungen gewesen. Inzwischen prüft die Polizei, ob der tätowierte und per Zeitungsfoto veröffentlichte Spruch des rechtsextremen Tattoo-Studio-Inhabers unter den Paragraph 86a des Strafgesetzbuches fällt, nämlich das strafbare Verwenden von Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation.

Prekäre Arbeitsverhältnisse in den Lokalredaktionen?

Dazu die Feststellung des medienkritischen Journalisten Niggemeier: „Man kann das als weiteres Beispiel dafür abtun, dass der Lokaljournalismus längst nicht mehr die notwendigen Ressourcen hat, um seine Aufgabe zu erfüllen. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ein solcher Artikel in besseren Zeiten anders ausgefallen wäre: Die freundliche, im Zweifel unkritische Berichterstattung über eine Geschäftseröffnung in einer größeren Kleinstadt gehört zum Standard des Lokaljournalismus“.

Er kritisiert, dass der überhöhte journalistische Anspruch des Medienhauses Lensing mit dem oft prekären lokaljournalistischen Alltag in den zusammengesparten Monopolblättern nicht übereinstimmt und deshalb nicht umsetzbar sei. Insofern mag das die gegen Fehler nicht gefeiten Redakteure entlasten, die mit ihrer zeitlichen und terminlichen Überlastung und den personellen Engpässen oft nur oberflächliche Recherchen leisten können, zumal sie obendrein auch noch als Werbeträger für die örtliche Geschäftswelt zur Pflege der Anzeigenkunden beitragen müssen. An manchen Tagen sind die Lokalseiten bis zur Hälfte mit Werbeanzeigen blockiert.

Verlust der Pressevielfalt und personelle Ausdünnung der Redaktionen

In der Tat ist mit dem redaktionellen Zusammenschmelzen der Tageszeitungen im Ruhrgebiet (wie z.B. Ruhr-Nachrichten, Recklinghäuser Zeitung, Westfälische Rundschau und WAZ etc.) - sowie dem Überstülpen der überregionalen Einheitsnachrichten und -kommentare des gemeinsamen Redaktionsnetzwerkes - nicht nur die Meinungs- und Pressevielfalt verloren gegangen. Sondern damit einher ging das personelle Ausdünnen und „outsourcen“ der Redaktionen sowie die prekäre Beschäftigung unterbezahlter freier Mitarbeiter, so dass redaktioneller Qualitätsjournalismus kaum noch in vollem Umfang möglich ist und die grundgesetzlich verbriefte Pressefreiheit darunter leidet. Trotzdem wirbt Lensingmedia mit seinen Kooperationspartnern nach Fusion von drei großen Medienhäusern mit "Leidenschaft für Journalismus" .

Auch in der Halterner Lokalredaktion ist dagegen zunehmend zu beobachten, dass immer weniger Redakteure für den Besuch wichtiger öffentlicher oder politischer Veranstaltungen oder für Pressekonferenzen mit den Veranstaltungsträgern zur Berichterstattung abgestellt werden können und sie deshalb oftmals auf Eigenberichte der Veranstalter angewiesen sind. Das aber widerspricht den Prinzipien eines unabhängigen und engagierten Journalismus in einer Stadt. Zum Glück gibt es noch Online-Medien wie den „Lokalkompass“ mit engagierten „Bürgerreportern“. Doch das kann kein vollwertiger Ersatz für funktionierenden und gut ausgestatteten und professionell aufgestellten Lokaljournalismus sein.

Wichtige Rolle des Lokaljournalismus für die Demokratie vor Ort

Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hat für die Demokratie auch vor Ort eine ganz wichtige und unverzichtbare Funktion. In einer Stadt wie Haltern, wo erst vor kurzem 5000 Menschen gegen Rechtsextremismus demonstriert haben, wo Hunderte Halterner Bürgerinnen und Bürger gegen AfD-Parteitage in der Nachbarstadt protestieren, und wo sich neben dem rührigen „Halterner Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt“ gerade eine weitere Initiative für mehr Respekt und gegen Antisemitismus gebildet hat, braucht diese lokale Bürgerbewegung die Unterstützung und den Resonanzboden aus der Presselandschaft. Denn auch in dieser Stadt hat sich erst jüngst eine AfD-Ortsgruppe gebildet und es tauchen Aufkleber mit rechtsextremen Inhalten im Stadtgebiet auf.

Erst gestern hat der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert in Haltern unter großem Zuspruch über das Thema „Demokratie braucht Demokraten“ referiert. Demokratie braucht aber außerdem auch eine freie und unabhängige Presse, deren Redaktionen nicht den wirtschaftlichen Interessen der gutverdienenden Verleger und Herausgeber in den großen Medienhäusern und -konzernen geopfert werden dürfen. („Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“ sagte schon der Philosoph Karl Marx). An Demokratie und Pressefreiheit darf als allerletztes gespart werden, sonst geht die „vierte Gewalt im Staate“ verloren. Von der Pressefreiheit hängt praktisch jede andere Freiheit ab.

Wilhelm Neurohr, 27. April 2024

>>> siehe zum Thema "Pressefreiheit" auch folgenden Artikel des gleichen Autors im Lokalkompass unter: https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/schwierige-zeiten-fuer-die-pressefreiheit_a1724104

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

Webseite von Wilhelm Neurohr
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