Kurzgeschichte

Perspektiven

Die Möbel hatte er verkauft. Seit der Scheidung war auch der Rest seiner Habseligkeiten nach und nach verschwunden. Es waren nur noch Kleinigkeiten, die er ins Auto tragen musste, um endlich Schluss zu machen. Schluss mit dieser Stadt und ihrem Gewusel von kurzen, krummen Straßen, die ihm keine Perspektiven mehr boten.
Jetzt fuhr er auf einer der großen Ausfallstraßen. Immer weiter geradeaus. Schnurgerade. Obwohl eine flexible Schnur eigentlich nicht das Symbol für Geradlinigkeit sein sollte.
Wenn er die verbleibende Straßenbreite am Horizont abschätzte, waren es nur einige wenige Zentimeter. Das würde nicht ausreichen. Da würde er mit seinem 2 Meter breiten Opel selbst mit eingeklappten Spiegeln nicht durchpassen.
Das beunruhigte ihn zunehmend, während Feld, Wald und Wiesen in unterschiedlichen Reihenfolgen an ihm vorbeirasten.
Manchmal glaubte er sogar, in der Ferne das Schild „Verengte Fahrbahn“ erkennen zu können.
Jetzt nahm er sich vor, eine der nächsten Abbiegungen zu nehmen, bevor ihn die Panik vollends packte. Aber sooft er auch abbog, es ging immer schnurgerade auf einen engen Durchgang am Horizont zu.
Er fuhr bis zum nächsten Kreisel, wollte schon wenden, da spürte er mit einem Mal, wie sehr der Kreisel den schnurgeraden Straßen überlegen war, garantiert durchlässig an jeder Stelle und noch ein paar Meter Durchmesser mehr als der in seinen Papieren angegebene Wendekreis von ca. 11 Metern. Das kam ihm sehr entgegen, das war sein Ding, da fühlte er sich gut. Da hatte er für immer Vorfahrt!
Und er verließ den Kreisel fortan nicht mehr.
Nach drei Tagen gelang es der Polizei und dem Tiefbauamt mit einem Trick, ihn da herunterzuholen.
Wenig später fand man ihn an einem Baum. Erhängt an einer Schnur. Ihre Form war v.o.n.u. gerade und dann kreisförmig.