Ziegenbasierte Kulturgeschichte
Was wir der Ziege verdanken und „Das Drama von Durlesbach“ - mit Plattgedicht am Ende

Man kann dem Wort „Ziege“ oder „Ziegen“ einfach jeden Buchstaben des Alphabets - außer x -  anfügen, um damit eine ganze Reihe von Begriffen zu beginnen, die sich sinnvoll zu einem Kompositum anfügen. Dieser reiche sprachliche Niederschlag zeigt die überaus enge Verflochtenheit der Ziege mit allen Bereichen menschlicher Kultur in Geschichte und Gegenwart. Man kann ohne Übertreibung von einer capragenen Kultur des Menschen sprechen.

Wir haben hier bei uns nur schlicht vergessen, welchen Wert die Ziege für Menschheit gespielt hat.
Außer in Form von Ziegenkäse ist die Ziege hierzulande fast nur negativ konnotiert oder soll Personen, die mit ihr in einem Atemzug genannt werden in ein schiefes Licht rücken. Wie zum Beispiel Erdogan oder die ewig meckernde Ehefrau.

Ja, die Ziege, besonders die alte, galt schon immer als eigenwillig, störrisch und ein bisschen dumm. Nur das siebente Geißlein, das Jüngste, das sich dem Grimm-Märchen zufolge im Uhrenkasten versteckte, ragt da positiv heraus. Im „Tischlein-deck-dich“ dagegen zerstört die Ziege sogar durch ihre Verlogenheit eine Familie.

Kulturgeschichtlich aber gehört sie wie Hund, Schaf und Schwein zu den wertvollsten tierischen Begleitern des Menschen, ohne die es schlicht nicht gegangen wäre. Und das haben die Menschen eigentlich auch immer zu würdigen gewusst:
Zeus, der Göttervater, wurde nach griechischer Auffassung von einer Ziege gesäugt. Das bedeutet, dass selbst die Götter auf ihre Hilfe angewiesen waren. Zeus setzte sie aus Dankbarkeit als Stern Capella an den Nachthimmel. Nicht zu vergessen die Ägis, das goldene Ziegenfell des Zeus, aus dem er Gewitter schüttelte. Deshalb auch: Gewitterziege!

Wer glaubt, nur in phantasiereichen südlichen Ländern wie Griechenland sei die Bedeutung der Ziegen ins Religiöse gesteigert worden, den muss ich leider enttäuschen.
Auch die nordische Mythologie räumt der Ziege allererste Plätze ein. Aus dem Euter der Ziege Heidrun, die in Walhalla lebt, floss das Met, der Trank der Götter. Und erstaunlicherweise wurde der Wagen des Donnergottes Thor von zwei Ziegenböcken gezogen - Tanngniosir (Zähneknisterer) und Tanngrisnir (Zähneknirscher). Das Rumpeln des Wagens wurde als Donner hörbar.

Im Alten Testament spricht der Herr zu Abraham: »Bring mir eine dreijährige Kuh, eine dreijährige Ziege, einen dreijährigen Schafbock, eine Turteltaube und eine junge Taube!«
Das war Gottes Preis für Abrahams Sohn!

In der christlichen Tradition ergeht es der männlichen Ziege, also dem Ziegenbock, allerdings nicht so gut. Er wird oft mit dem Satan in Verbindung gebracht. Dabei ist er derjenige, der unentwegt für den Nachwuchs sorgt. Das Symboltier der Christen aber ist mehr das Schaf, bzw. das Lamm.

Eine gewisse Gefühllosigkeit gegenüber dem Ziegenbock zeigt sich in dem Drama von Durlesbach.

Ein Lied kündet davon: "Auf der Schwäbschen Eisebahne“

Hier ein Erlebnisbericht aus meiner Kindheit:

„Im Sommer, wenn’s irgend geht, ist ein Besuch der Gedenkstätte in Durlesbach - für das Opfer schwäbischen Geizes einerseits und des Geschwindigkeitswahns moderner Verkehrsmittel andererseits - fest eingeplant. Habe ich doch als Kind ein schweres Geißbocktrauma erlitten. Ich sage nur Meckenbeuren - Durlesbach. Kein Mensch weiß, wie dieses grausame Studentenlied von 1850 Eingang in die Kindergärten finden konnte. Ich wurde jedenfalls immer an irgendwas, das einen Zug darstellte - wahrscheinlich die anderen Mitkinder - angebunden und hatte dann jeden Morgen zu sterben, und das als Vierjähriger, ich bitte Sie!
Ich weiß nicht mehr, wie ich als kleiner Ziegenbock-Imitator beim Höhepunkt der Tierschinderei den Kopf abgerissen bekam. Oder haben wir da einen echten Geißbockkopf genommen? Es war ja noch fast Krieg. Vielleicht war er von Opa, der einmal eine Ziege geschlachtet hatte, die danach völlig kopflos einige Runden auf dem Hof drehte.
Erst konnte ich nur meckern, das aber sehr überzeugend, und etwas „Rulla, rulla, rullala…“ mitsingen. Ich lernte aber schleunigst Schwäbisch, was unter einem schwäbischen Bundespräsidenten Heuss leichter fiel als gedacht. Und als ich die Haltstatione: „Schtuegert, Ulm und Biberach, Mekkebeure, Durlesbach“ behielt, wechselte ich zur Zuggruppe und arbeitete mich dort bis zu meiner fristgerechten Entlassung aus dem Kindergarten noch zum Kondukteur vor, der immer den Ziegenkopf abkriegt. Soviel zur „Schwäbischen Eisenbahn“ und den „geißigen“ Schwaben!“

Wer es nicht kennt, sondern nur Goethes „Faust“, besitzt leider nur eine Halbbildung, die sich aber mittels Internet minutenschnell upgraden lässt.

Jedenfalls beweist das Schwäbische Gesangsepos – die Gedenkstätte Durlesbach gibt es tatsächlich - dass die Ziege auch in der jüngeren Geschichte ein fester Bestandteil westlicher Kultur war und ist.

Just heute lese ich in der NRZ etwas über den Mülheimer Arche-Park im Witthausbusch. Dort kann man u.a. auch Patenschaften für Ziegen übernehmen. Für den Fall, dass der von mir patentierte Ziegenbock dann auch "Franz" heißt, überlege ich mir das und lass mir das evtl. zum Geburtstag schenken

Zum Dessert hier nun noch einige Gedichte, in denen die Ziege vorkommt:

In Asien stand des Tieres Wiege
und Prisca hieß die erste Ziege.
Auch eine andre, Bezoar,
bekannt schon dem Homerus war.
Die Ziege ist verbreitet heute,
als Lieblingstier der armen Leute.
Willst Du nicht stehlen, dann
schaffst du dir ein paar Ziegen an,
die in fremden Gärten hupfen
und Laub und Gräser rupfen, zupfen
und dir aus anderer Leute Kräutern,
heimbringen Milch in ihren Eutern.

Eugen Roth

Die Bergmannskuh
Wenn ich eine Ziege seh’,
muß ich an zu Hause denken.
Höre ich das traute Mäh,
kann ich mich zurückversenken
in die Zeit der bloßen Füße.
Vor mir seh’ ich Hof und Feld.
Tiere bringen ihre Grüße
aus der bunten Kinderwelt.
Wenn ich eine Ziege seh’,
denk’ ich an zerrißne Hosen,
und zum Dank für jedes Mäh
möcht’ ich ihren Bart liebkosen.
Friedlich grast die Bergmannskuh
unter Silberbirkenstämmchen.
Gab uns Milch und noch dazu
um die Osterzeit ein Lämmchen.
Die Kaninchen, Täubchen, Entchen,
Stare, Spatzen, groß und klein,
bringen mir ein lustig Ständchen,
selbst der Kater stimmt mit ein.
Lieblich klingt das weiche Mäh,
Heimatklänge mich umschmeicheln.
Wenn ich eine Ziege seh’,
muß ich hingehn – und sie streicheln

Fred Endrikat, aus Wanne Eickel,
Er soll übrigens den Spruch „Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen“ erfunden haben.

Kennst du das Land, wo die Rosinen liegen,
das ist das Rumbachtal mit seinen Ziegen,

Pastor Ewald Luhr, Mülheim - Saarn

Und schlußendlich noch das berühmte Platt-Epos vom verbeamteten Ziegenbock, das wohl auf einer kuriosen Zeitungsmeldung beruht, welche Hardering und Sauerbrey angeblich Sylvester 1945/46  in Mölmsch Platt verarbeitet haben:

Dä Hippembok van Tante Kaat

Dä Hippembok van Tante Kaat,
Dä found wahl in där chanzen Stadt
Un rüm un tüm nee ssienes-chlieke,
Do koun wahl ke-inem Bok draan rieke!
Et woar em Praach! Hatt doch dat Dier
Boll Hööner chrad ssu ees en Stier.
Un ssinnen langen Hippembaat
Ssech aantekieken woar en Staat!

Dä Hippembok van Tante Kaat,
Dä woad met alle Hippen praat,
Un wä en Hippen hatt, dä trock
Domet noh Kaatchens Hippembok.
Dat woar en Kumme un en Choon,
Däm Bok, dän hatt chenooch te doon.
Un jedeskeahr hatt et chebatt;
Dorin hatt he ssin Iahr chessatt.

Däm Hippembok van Tante Kaat,
Däm woar et te verdanke, dat
Ke-in Huus miähr do woar oahne Hippe.
Et woar doröm ouk tu bechriepe,
Dat ssech dä Stadtroot leet beweege,
Un dat dä chroate Hippe-Sseege
Ees iäste Punk – op jeden Fall –
Im nööhste Stadtroot koam te Kall.

Dän Hippembok van Tante Kaat,
Dän tröü ssin Fleech chedoone hatt,
Un dobe-i ömmer ssu chedöülich,
Däm woar dä Stadtroot dat waal schöilich.
Un we-il dä Stdtroot ouk verstainich,
Woad he sich chau dodrööwer e-inich.
Däm Bok woad em Diplom cheschreewe
Un Tante Kaatchen ööwechreewe.

Dä Hippembok van Tante Kaat
üss Johrenden all föar die Stadt
(Ssu woar in däm Diplom te lease)
Flietich, braf un tröü cheweese
Un ssall, öm ssinnen Loahn te kreege,
Nou tum „CHEME-INDE-BOK“ aansteege.
He wäd, ssu lang ssin Leewen duurt,
Van de Cheme-inde fre-i chefuurt.

Dä Hippenbok van Tante Kaat
Drooch nou dä Kopp noch ees ssu chrad!
He chingk noch ees ssu stolz doher.
Merr: Et choawen’t ke-in kle-in Hippe miähr!
Dän Bürgerme-ister – in Erregung –
Ssatt sech nou wacker in Bewechung,
Löpp stracks noh Tante Kaatchen hin,
Öm do nohm Räächten ees te ssehn.

Dä Hippembok van Tante Kaat,
Dä fuhlden ssech merr bloas te schad!
Ees nou däm Bürgerme-ister frööch
Off öaren Bok waal nicks meahr dööch,
Sseet Tante Kaat: „Dat üss domm Tüüch!
Däm Bok, dän üss noch lang nee drüüch!
Däm Bok will bloas, Dou mutts verstoon,
Nou ees Beamte nicks miähr doon!”

Gemeindeziegenböcke sind nicht der Phantasie der Dichter entsprungen, sondern sie gab es bis in die jüngere Zeit und waren selbst Gegenstand von Gemeinderatsprotokollen - wie diese Notiz über die Gemeinde Garching bei München zeigt:

„Die Ungleichzeitigen im »Atom-Dorf« lassen sich nicht zuletzt an Problemen beobachten, die in den Gemeinderatssitzungen neben der Frage der Errichtung des Forschungsreaktors sowie weiterer Institute auf der Tagesordnung standen. Im Februar 1959 war der »im Besitz der Gemeinde befindliche Ziegenbock« Thema. Da für diesen nun schon seit August 1954 die Deckerlaubnis für die öffentlich Zuchtbenutzung bestand, wurde beantragt, infolge der langen Zeit, einen
neuen Ziegenbock zu beschaffen. Fragen dieser rein lokal-bäuerlichen Bedeutung standen gleichberechtigt auf der Tagesordnung neben Themen wie der Errichtung des ersten bundesdeutschen Forschungsreaktors oder die Pläne für die Ansiedlung des Instituts für Plasmaphysik, denen der Gemeinderat gleichermaßen zustimmte.“

Autor:

Franz Bertram Firla aus Mülheim an der Ruhr

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