Sandy Nadine Ilg ist Underachieverin
40, ohne Ausbildung, hochbegabt

Sandy Nadine Ilg hat wegen ihrer Hochbegabung einen langen Leidensweg hinter sich.  | Foto: Dabitsch
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Mit 40 Jahren ist Sandy Nadine Ilg zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich. Sie hat einen Partner gefunden, der versteht, wie sie tickt: Beide sind hochbegabt. Über eine schier endlose Suche zu sich selbst mit zahllosen verpassten Chancen, die die Essenerin fast in den Selbstmord getrieben hätte. 

Sie lächelt freundlich, als wir uns im Café kennenlernen. Wirkt kein bisschen nervös, sprudelt gleich drauf los. Aber wo beginnt man eigentlich? Wann sie das erste Mal gemerkt habe, dass sie anders sei, möchte ich von ihr wissen. "Schon im Kindergarten", antwortet sie ohne zu zögern. Da hat sich Sandy Nadine eigenständig das Lesen und Schreiben beigebracht. Als sie versuchte, ihrem Freund das ebenfalls zu vermitteln und damit scheiterte, ahnte sie zum ersten Mal, dass sie nicht wie die anderen ist.

Schon als Kindergartenkind merkt Sandy Nadine Ilg: Ich bin anders! | Foto: Ilg
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Keine Gesprächsthemen mit Klassenkameradinnen

Das Gefühl manifestierte sich in den folgenden Jahren. In der Grundschule fehlten Gesprächsthemen mit den Klassenkameradinnen - die interessierten sich für "typische Mädchensachen", Sandy Nadine hingegen las sich tief in Themen wie den menschlichen Körper, den Tod und das Universum ein. "Ich habe immer wieder versucht mich anzupassen, aber die Themen der anderen langweilten mich einfach nur." Echte Freundschaften entwickelten sich nicht, das Mädchen wurde als "die Komische" in der Klasse abgestempelt. 

Am Gymnasium wurde es noch schlimmer

Schlimmer wurde die Situation am Gymnasium. Ihre Leistungen, die an der Grundschule noch super gewesen waren, schmierten ab. "Ich hatte nie gelernt zu lernen", weiß Sandy Nadine heute. Mobbing kam dazu, sie wurde von den Mitschülern aktiv ausgeschlossen, Nicht-Versetzung, Schuleschwänzen. 

"Ich dachte, ich sei zu dumm fürs Abi"

Sandy Nadine wechselte auf eine Gesamtschule, wo sie ohne Probleme ihren Realschulabschluss erwarb. Das Abi traute sie sich nicht zu: "Ich dachte, ich sei zu dumm!" Zu dieser fatalen Fehleinschätzung gelangte die Essenerin durch ihren damaligen Mathelehrer. "Ich wollte verstehen, warum etwas so ist, wie es ist." Mein Lehrer hat abgeblockt und gesagt: "Weil es eben so ist." Dieser Moment sollte tiefen Einfluss auf das weitere Leben nehmen. "Keiner meiner Mitschüler wollte diese Erklärung. Daraus schloss ich, dass alle anderen es verstanden hatten, nur ich nicht. Also musste ich dümmer sein als die anderen."

Lehrerin des Sohnes vermutete Hochbegabung

Bis zum IQ-Test vor vier Jahren war sie davon überzeugt. Überhaupt auf das Thema Hochbegabung aufmerksam wurde sie durch ihren ältesten Sohn. "Seine Grundschullehrerin äußerte den Verdacht, dass er hochbegabt ist und bat um Testung. Dabei kam ein hoher IQ heraus." 

Mit Mitte 20 wurde Sandy Nadine Ilg zum ersten Mal Mutter. Erst durch ihren ältesten Sohn wurde sie auf das Thema Hochbegabung aufmerksam.  | Foto: Ilg
  • Mit Mitte 20 wurde Sandy Nadine Ilg zum ersten Mal Mutter. Erst durch ihren ältesten Sohn wurde sie auf das Thema Hochbegabung aufmerksam.
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Zahllose verpasste Chancen

Bis sich Sandy Nadine dazu durchrang, sich ebenfalls testen zu lassen, vergingen mehrere Jahre. "Die Angst, eine Minderbegabung bescheinigt zu bekommen, war zu groß." Schließlich blickt die 40-Jährige auf Jahre voller verpasster Chancen zurück: Nach dem Realschulabschluss begann sie zahllose Ausbildungen - von der Pferdewirtin über Zahnarzt- und Tierarzthelferin bis zur Rechtsanwaltsfachangestellten. Nach spätestens sechs Monaten brach sie ab. "Das hat sich für mich wie ein Gefängnis angefühlt, den ganzen Tag nur Akten sortieren, ans Telefon gehen und dem Chef assistieren. Der Gedanke, dass das alles gewesen sein soll, bescherte mir nachts Albträume."

Abi mehrfach abgebrochen

Also versuchte sie in mehreren Anläufen, ihr Abitur zu machen - die Eintrittskarte zum Chemie-Studium. Sandy Nadine hatte auf dem Weg dorthin ein Zeugnis mit Durchschnitt 1,0 - und brach doch wieder ab. Die Veränderung des Lernumfeldes genügte als Auslöser: "Die Klasse wurde von 15 auf 25 Schüler vergrößert, darunter einige Jungs, die sehr laut waren", erzählt Sandy Nadine. 

"Ich dachte, es gibt auf dieser Welt keinen Platz für mich"

Sie gab ihren Traum erstmal auf, zog sich in Resignation zurück, bekam insgesamt vier Kinder. Aber auch das alleine reichte nicht zum Glücklichsein. Wieder wiederholte sich das alte Schema. Bei Müttertreffs fand Sandy Nadine keine Themen, keine Gemeinsamkeiten mit den anderen Frauen, fühlte sich einsam. Auch ihre Partner konnten sie nicht auffangen. "Zweimal war ich wegen psychischer Probleme in Kliniken, habe mich selbst verletzt und suizidale Gedanken gehabt. Ich habe mich nie richtig gefühlt und dachte, es gibt auf dieser Welt keinen Platz für mich." Die Ärzte vermuteten verschiedene psychische Erkrankungen, allein auf eine mögliche Hochbegabung testeten sie nicht. 
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IQ von 135

2018, mittlerweile 36 Jahre alt, überwand sich die Essenerin und machte einen Intelligenztest. Das Ergebnis, ein IQ von 135, brachte ihr zunächst einen gewaltigen Selbstbewusstseinsschub. Nach kurzer Zeit aber wich dieser einer tiefen Traurigkeit. "Wenn ich früher erkannt worden wäre, hätte mein Leben eine andere Wendung genommen. Ich trauerte den vielen verpassten Chancen hinterher", sagt die Frau, die momentan auf Hartz IV angewiesen ist.

Optimistisch in die Zukunft

Und heute? Ihr Gesicht strahlt. Kurz nach ihrem IQ-Test ist sie dem Verein Mensa beigetreten. Dort organisiert sie Veranstaltungen für Kinder und hat ihren Partner, ebenfalls hochbegabt, kennengelernt. "Mit ihm ist es wie Nach-Hause-kommen, wir ticken irgendwie gleich. Ich bin so glücklich."
In beruflicher Hinsicht zögert sie noch - oder doch nicht? Nach unserem Gespräch erreicht mich eine Mail: "Ich habe mir jetzt die Kontaktdaten vom Schulamt rausgesucht und werde mich mit denen in Verbindung setzen, um zu erfahren, wie ich mich optimal auf das Abitur als Nichtschüler vorbereiten kann. Zum Glück ist Chemie ja zulassungsfrei."
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INFO
Was sind Underachiever?
Das sind Kinder, die trotz hoher intellektueller Begabung niedrige Schulleistungen erbringen.

Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

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