Experten-Interview
Hochbegabt, aber nur selten ein "Wunderkind"

Die Gaußsche Normalverteilungskurve für die Intelligenzverteilung in der Bevölkerung zeigt, dass nur zwei bis drei Prozent der Menschen als hochbegabt zählen.  | Foto: Grafik: dab
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  • Die Gaußsche Normalverteilungskurve für die Intelligenzverteilung in der Bevölkerung zeigt, dass nur zwei bis drei Prozent der Menschen als hochbegabt zählen.
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Sonja Steinbeck* arbeitet als Coach fast ausschließlich mit Hochbegabten. Im Interview erklärt sie, warum der Begriff nicht mit "Wunderkind" gleichzusetzen ist, was Hochbegabte auszeichnet und welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen. 

Wer hochbegabt ist, gilt gemeinhin als leistungsstark und erfolgreich. Stimmt das?
Nein, diese Aussage stimmt nicht pauschal, sondern spiegelt ein typisches Klischee, eine Form, in die viele Hochbegabte gepresst werden, wider. In der Realität sieht es so aus, dass 15 Prozent der hochbegabten SchülerInnen leistungsstark im schulischen Sinne sind, 85 Prozent aber das gesamte Notenspektrum bis hin zum Schulabbruch abdecken. Es gibt nicht den einen Hochbegabten oder die eine Hochbegabte, sondern es gibt sie als Menschen in verschiedenen Facetten, Profilen und Gesellschaftsschichten, von leistungsstark bis Underachiever (Anmerkung der Redaktion: Das sind Kinder, die trotz hoher intellektueller Begabung  niedrige Schulleistungen erbringen.)

Also ist nicht jeder Hochbegabter ein „Wunderkind“? Warum nicht?
Wenn der Begriff "hochbegabt" fällt, denken viele sofort an Menschen wie Albert Einstein. Auch in den Medien werden häufig bevorzugt Wunderkinder vorgestellt, wobei ich mich von diesem Begriff distanzieren möchte. Hochbegabte verfügen über ein hohes kognitives Potenzial, aber auch über ein Mehr an Denken, Fühlen und Wahrnehmen. Die Hochbegabung durchdringt den Menschen als Ganzes. Häufig bewegen sie sich in Settings, in denen sie ihre Potenziale gar nicht abrufen oder entfalten können, oder in Umgebungen, wo dies auch gar nicht gewünscht ist. In Schule und am Arbeitsplatz ist leider oft kein Raum, Wissen und Verständnis für die große Potenzialweite im Denken, Fühlen und Handeln. 
 
Wer gilt eigentlich als hochbegabt?
Zwei bis drei Prozent der Menschen gelten als hochbegabt. Als Grenze wurde in Deutschland ein Intelligenz-Quotient von 130 festgelegt. Die Merkmale einer Hochbegabung und auch die Notwendigkeit einer schulischen Förderung beginnen allerdings schon im 120er Bereich. Es gibt keinen Schalter, der bei 130 die Hochbegabung „anknipst“. Die Übergänge sind fließend, weshalb sich Fachleute dafür einsetzen, die Hochintelligenz ab 120 zu definieren.
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Mehr zum Thema

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Wie stellt man eine Hochbegabung fest? 
Obwohl jedes Kind einen individuellen Charakter und Prägungen hat, gibt es Merkmale, die auf eine Hochbegabung hindeuten können. Dies können eine ungewöhnliche Wachheit als Baby, frühes Laufen und Sprechen sein. In der Kindergartenzeit eine herausfordernde Eingewöhnung, totale Erschöpfung beim Abholen und Nicht-in-den-Kindergarten-wollen können ebenso Zeichen sein, wie dass das Kind das Kita-Geschehen von außen beobachtet, im Stuhlkreis unruhiges Verhalten zeigt und sich für Dinge interessiert, mit denen sich ältere Kinder beschäftigen, zum Beispiel Buchstaben und Zahlen, frühes Lesen oder großes Wissen in einem Spezialgebiet erwirbt. Wenn die Eltern Glück haben, haben die Erzieherinnen einen guten Blick für die Thematik und geben den Eltern einen Hinweis auf eine mögliche Hochbegabung. Weitere Anzeichen können sein: ein hohes Energielevel, hohe Sensibilität, zum Beispiel stören Etiketten in Kleidung oder spezielle Essgewohnheiten, eine große Intensität in diversen Bereichen. Steht der Verdacht im Raum, empfehle ich erste Erkenntnisgewinne durch Literatur oder Fachseiten wie die der Karg-Stiftung oder "Können macht Spaß". Der Austausch mit anderen Eltern in Gesprächskreisen sowie eine Erstberatung können Klarheit bringen und erst dann, bevorzugt ab dem Grundschulalter, die Testung. 

Gibt es Unterschiede zwischen hochbegabten Mädchen und Jungen? 
Es werden zwei Drittel Jungen als hochbegabt erkannt, aber nur ein Drittel Mädchen. Die Verteilung der Intelligenz ist aber 50:50. Die Mädchen fallen oft weniger auf, sind sozial gut angepasst und runterreguliert. Gibt es in der Familie schon das Thema Hochbegabung, sollte auf die Tochter sowie die Mutter ebenso der Blick in Sachen Hochbegabung gerichtet werden, selbst wenn der Laie von außen oder die Betroffenen selbst vermeintlich keine Merkmale erkennen können.

Wo kann ich einen IQ-Test durchführen lassen?
Eine Hochbegabungsdiagnostik ist mehr als nur ein IQ-Test, denn sie bezieht die ganze Person mit ein. Der Tester/die Testerin sollte im besten Fall auf das Thema Hochbegabung spezialisiert sein. Fachleute findet man zum Beispiel über die Expertengruppe Hochbegabung oder über Anfrage in Beratungsstellen. Es gibt schwarze Schafe, die viel Geld mit der Diagnostik verdienen (wollen). Als Richtschnur sollte eine Diagnostik, bestehend aus Vorgespräch, Testung, Nachgespräch und Gutachten zwischen 350 und 450 Euro kosten. 
 
Sind Hochbegabte in bestimmten Bereichen besonders begabt oder generell?
Auch hier gilt wieder: Es ist eine heterogene Gruppe. Jede/r Hochbegabte hat ein individuelles Begabungsprofil, einen eigenen Charakter und Prägungen. Oft sind Hochbegabte aber in vielen Bereichen begabt, nicht nur kognitiv. Häufig sind sie sehr kreativ, musisch oder sportlich, hochsensibel, interpersonell oder intrapersonell begabt – sie sind sehr facettenreich. Was davon abgerufen wird, steht auf einem anderen Blatt und und kommt unter anderem auf das Setting an, in dem sie sich bewegen. Viele Hochbegabte sind irgendwann erschöpft und unmotiviert, aufgrund von Unterforderung, die den gleichen Stress wie Überforderung generiert, oder ihrer permanenten Anpassungsleistung. Sie bewegen sich oft in einem Spannungsfeld zwischen sich authentisch mit ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten zeigen und der Anpassung an die anderen. Das nennt man Ambivalenzdilemma. 

Was ist der Unterschied zwischen Hochbegabten und Hochleistern?
Nicht jeder Hochleister ist auch hochbegabt. Hochleister zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen großen Ehrgeiz und eine große Bereitschaft zum Lernen an den Tag legen. Im Schulsystem sind sie in der Regel gut angepasst. Um als Hochbegabte/r hohe Leistungen zu erbringen, muss vieles zusammenkommen, nämlich Begabungsfaktoren, nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale und Umweltmerkmale, zum Beispiel eine gute Aufgabenpassung, Motivation, Stressbewältigung, eine entspannte familiäre Situation oder ein gutes Klassenklima, die Instruktionsqualität und noch einige
Faktoren mehr. 

Und was versteht man unter Höchstbegabung?
Als höchstbegabt bezeichnet man Menschen mit einem IQ ab 145, ungefähr einer unter 1000 Menschen. 

Sie coachen Hochbegabte und ihre Familien. In welchen Bereichen wird denn Hilfe benötigt?
Häufig geht es um Herausforderungen im schulischen Kontext aufgrund von Unterforderung wegen mangelnder Förderung und mangelnder Aufgabenpassung, Beratung nach IQ-Testungen, Fragen zu inner- und außerschulischen Fördermöglichkeiten. Darüber hinaus geht es auch um die Feststellung, welche Ressourcen der/die Hochbegabte hat, um mit den Herausforderungen des (schulischen) Alltages bestmöglich umgehen zu können, Potenziale zu entfalten und letztendlich die eigene
Identität leben zu können. Aber auch Lehrkräfte sind offen für den Dialog und lassen sich bei mir beraten.

Was wünschen Sie sich für den Umgang mit Hochbegabten?
Ich wünsche mir, dass das Schubladendenken ein Ende hat und die Gesellschaft hochbegabten Menschen mit Offenheit und ohne Vorurteile und Stereotypen begegnet. Darüber hinaus sollten die Merkmale einer Hochbegabung und die Fördermöglichkeiten Bestandteil der LehrerInnenausbildung sein. So hätten diese eher die Chance, hochbegabte Kinder zu entdecken, kreativ und offen zu begleiten – hierzu benötigt es allerdings auch ein Schulsystem, das Kreativität, Divergenz und Wege jenseits der Norm zulässt.
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*ZUR PERSON:
Sonja Steinbeck arbeitet als Coach mit Spezialisierung auf Hochbegabung und psychologische Beraterin. Sie ist ECHA-Coach (European Council of High Abilities), hat eine Praxis in Essen und engagiert sich in der Beratungsstelle Hochbegabung im Club Heiligenhaus. Ehrenamtlich leitet die 49-Jährige zwei Gesprächskreise zum Thema Hochbegabung.

Mehr zum Thema Hochbegabung

-> Experten-Interview mit Andrea Steinforth: Nicht selten ändert ein IQ-Test das ganze Leben

Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

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