BUCH DER WOCHE: Keine Pläne haben

Paul Auster: Sunset Park. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, 318 Seiten, 19.95 Euro

„Zum ersten Mal seit langer Zeit atmen, ohne dass sich die Brust verkrampft.“ Dieses Gefühl der Freiheit artikuliert die Doktorandin Alice Bergstrom, nachdem sie mit drei Freunden ein heruntergekommenes Haus in Brooklyns Schmuddelbezirk „Sunset Park“ besetzt hat.

Zu ihren Mitbewohnern gehören Jazzmusiker Bing Nathan, der wertlosen Plunder repariert, die künstlerisch angehauchte Maklerin Ellen Brice und der einst vielversprechende Student Miles Heller - die zentrale Hauptfigur in Paul Austers neuem, von einer depressiven Grundstimmung geprägten Roman.
Alle Mitglieder dieses Quartetts sind gestrandet, junge Intellektuelle, die in der von Bankenkrise und Irak-Krieg geprägten amerikanischen Gegenwartsgesellschaft irgendwie nicht richtig die Kurve gekriegt haben.
Miles Heller zum Beispiel hat mit mehreren Traumata zu kämpfen. Die Trennung seiner Eltern hat ihm mindestens ebenso zu schaffen gemacht wie der Tod seines Bruders Bobby, den er als 16-jähriger auf einer Landstraße im Streit vor ein Auto geschubst hat. Er brach rasch den Kontakt zu Eltern und Freunden ab, zog durchs Land und jobbte eine Zeit lang als Entrümpler für eine Immobilienfirma, ehe er nach New York zurück kehrte.

Sein Leben ist mit 28 Jahren perspektiv- und hoffnungslos: „Keine Pläne haben, soll heißen, nichts ersehnen und nichts erhoffen, mit seinem Los zufrieden sein, hinnehmen, was die Welt einem von einem Sonnenaufgang zum nächsten zuteilt - wer so leben will, darf nur sehr wenig begehren, so wenig wie menschenmöglich.“
Und so richtet sich das Quartett im wahrsten Sinne des Wortes am Rande der Gesellschaft ein. Das besetzte, abbruchreife Haus fungiert auch als Symbol für die Lebensumstände der Figuren. Es gibt nur ein kurzes Aufflackern der Hoffnung, als Miles die minderjährige Pilar Sanchez trifft, die nicht nur sein Begehren weckt, sondern zufällig auch noch das gleiche Buch („Der große Gatsby“) wie er liest. Doch dieser positive Lebensimpuls wird von Pilars älterer Schwester jäh gestoppt, als sie Miles mit der Polizei droht.

Paul Auster, der im Februar seinen 65. Geburtstag feierte, erzählt aus wechselnden Perspektiven. Anders als in den meisten Vorgängerwerken gibt es kaum Verschachtelungen, sondern es wird peu à peu ein biografischer Strauß geflochten. Selten war Paul Auster, dessen Romane inzwischen in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, so nah am Puls der Zeit. Er beschreibt den Rand der ausfransenden amerikanischen Gesellschaft, in der die Zahl der Verlierer kontinuierlich wächst. Seine Figuren wirken wie Fremde in der realen Welt, wie trotzige Outlaws, die um das tägliche Brot und ein klein wenig Stolz kämpfen. Auch Miles‘ Vater gehört zu den Verlierern. Der zum zweiten Mal verheiratete Kleinverleger versucht seine handfeste Existenzkrise mit Alkohol zu bekämpfen.
„Ich glaube nicht, dass man einem Werk eine Form überstülpen kann. Jede Geschichte entwirft ihre eigene Form“, hatte Paul Auster einmal über seine eigene Arbeit erklärt. Mit „Sunset Park“ hat er dies noch einmal eindrucksvoll unterstrichen. So düster und kühl wie das beschriebene Viertel in Brooklyn ist auch Austers Erzählton. Eine geradezu schmerzhafte Lektüre, aber ganz gewiss eines der beeindruckendsten und bewegendsten Bücher aus der Feder des großen New Yorker Erzählers.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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