BUCHTIPP DER WOCHE: Die abgeschobene Renate

Thomas von Steinaecker: Das Jahr in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2012, 389 Seiten, 19,99 Euro

Der ellenlange Titel von Thomas von Steinaeckers viertem Roman hat durchaus programmatischen Charakter, denn das Leben der Hauptfigur Renate Meißner ändert sich ziemlich abrupt. Sie gerät von der Überholspur aufs Abstellgleis, vom Dauerstress zur beinahe meditativen Träumerei.

Aber dies ist ein langer nervenaufreibender Weg für die 42-jährige, alleinstehende Powerfrau, die als Vize-Abteilungsleiterin eines großen Versicherungsunternehmens ihr Privatleben ganz der beruflichen Karriere untergeordnet hat. Die Protagonistin von A bis Z durchgestylt, eine Karrierefrau, wie sie aus dem Katalog stammen könnte. Gebetsmühlenartig rezitiert sie aufs Stichwort wohl klingende, aber sinnfreie Managementweisheiten, sie denkt und fühlt ausschließlich in Zahlen, Statistiken und Umsatzrenditen, ist eine Person mit wenig emotionalen Bindungen und selbst persönliche, ganz private Rückschläge (wie den Tod der Mutter) versucht sie in Diagramme zu pressen und nachträglich zu analysieren.
Der in Augsburg lebende, 35-jährige Autor Thomas von Steinaecker (Foto oben), der 2007 mit seinem Debütroman „Wallner muss fliegen“ für viel Furore gesorgt hatte, verwendet eine Sprache, die ebenso kühl und distanziert wirkt wie der Gefühlshaushalt seiner Hauptfigur. Zur effektvollen Unterstützung setzt von Steinaecker auf eine visuelle Komponente und hat Illustrationen, Fotos und Notizzettel in den Text einmontiert.
Dass es mit solch einer ausschließlich auf die berufliche Sphäre fixierten Figur kein gutes Ende nehmen kann, ahnt man zwar früh, aber der Autor hat ihr ein schweres Päckchen aufgebürdet. Zuerst wird Frau Meißner von Frankfurt nach München versetzt. Weggelobt oder entsorgt? Ihr Vorgesetzter und Geliebter, das Vorstandsmitglied Walter, hat einfach ein Schlussstrich unter die Beziehung gezogen und sie in die dahindümpelnde Filiale München-Nord versetzt. Wir befinden uns im Jahr 2008, unmittelbar nach der Pleite der Lehman Brothers, die auch die Versicherungsbranche mit voller Wucht traf und ins Trudeln brachte. Durch einen ihrer Kunden knüpft Renate Meißner Kontakt zu einer steinalten Vergnügungsparkbetreiberin in Rußland. Jene Frau Wasserkind stammt zufällig aus Bayern, schwärmt für die herrlichen „Weißwürscht“ und hat (und da sind es dann doch der Zufälle zuviel) frappierende Ähnlichkeit mit Renates vor vielen Jahren verschwundener Großmutter. Zwei Flugstunden östlich von Moskau verhandelt die Protagonistin mit der Greisin über eine Versicherung des in München geplanten Projektes. Deren verstorbener Mann (musste das auch noch sein!!) hat einst für die Nazis den Funpark „Germania“ entworfen, womit sich auch noch ein historischer Zyklus wieder schließen lässt.
Dieser Roman über das klägliche Scheitern der vom Ehrgeiz geradezu zerfressenen Renate Meißner hinterlässt am Ende einen faden Beigeschmack, denn hier wirkt alles arg konstruiert, und die Geschichte entwickelt keinerlei Eigendynamik. Dass Renate fern der Heimat erfährt, dass sie ihren Job verloren hat und der Standort München komplett abgewickelt wurde, kann kaum überraschen. Es kommt auf der letzten Seite zum totalen Cut im Leben. „In den letzten Tagen habe ich mich manchmal ins Dickicht gehockt. Während die Stämme der Bäume unter der Last des Schnees wanken und im Wind knarzen, ist vom Sturm zwischen dem Reisig, hinter den Büschen nichts zu spüren. Ja, man kann dort mit geschlossenen Augen sitzen - und glauben, der Frühling stehe vor der Tür.“ Diese Form der totalen Umkehr wirkt (so sehr man sie sich zuvor händeringend gewünscht hätte) schlussendlich wenig plausibel.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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