Tatort neben EselRock
Tatort Mensch

Gefühlt weiß mittlerweile jeder um die Polizeiermittlungen zum Vergewaltigungsvorwurf gegen einen 20 Jährigen Mann, der ein 15 Jähriges Mädchen neben dem Gelände des EselRock missbraucht haben soll. Soll man noch darüber sprechen? Soll man noch darüber schreiben? Ist Schweigen nicht ein diskreteres Mittel zur Schonung eines Opfers?

…Man kann nichts richtig machen, wenn schon alles falsch lief.

Dieser Text nimmt keine Rücksicht auf die ›Mutmaßlich«-Konvention. Dieser Text pfeift auf die »Konjunktiv«-Regel. Wer das nicht gutheißt, soll hier mit Lesen aufhören.
Natürlich ist das subjektiv. Das ganze Leben ist subjektiv. Jede jemals von Menschen vergossene Träne ist subjektiv, gespeist aus Eindrucksfülle, Gefühlen und situativer Ergriffenheit. Und selbst, wer rational sein will… dessen Motivation dafür ist auch emotional unterbaut. Überlassen wir die Objektivität den Excel-Tabellen und den Datenbankmanagementsystemen.

Der Fall ist per Definition reine Grausamkeit. Auf der Distanz von wenigen Dutzend Metern Luftlinie feiern auf der einen Seite Menschen, genießen Musik und Beisammensein, während auf der anderen Seite ein Menschenleben vom Körper bis zur Seele vollends angegriffen und geschunden wird. Es ist fürchterlich. Es ist die Schattenseite allen Spaßes, der so nah und so konzentriert daneben so viele andere Herzen erfreute. Und dann wurde dieses eine Herz so schrecklich verletzt.

Und dennoch ist es die perverseste Form von Normalität, weil es überall auf der Welt täglich tausendfach passiert.

Der Mensch an sich ist ein Geschöpf von grotesker Unstetigkeit. Mal verfängt er sich in religiöser selbstverleugnender und weltfremder Leibfeindlichkeit, mal verfällt er in hedonistisch-ausgelassener Promiskuität. Oder irgendetwas dazwischen. Alles eine Frage der Epoche. Das zeigt, das die selbstbestimmte Sexualität immer noch ein instabiles Konstrukt der äußeren Umstände ist.
Die sexuelle Revolution der 68er-Bewegung hätte den Menschen in bewusstes, empathisches, selbstbestimmtes, von traditioneller Aufladung befreites Handeln, sowie in einen von Fehlinterpretationen und Vorurteilen gereinigten Austausch von verkörperlichter Zuneigung führen können. Stattdessen fiel diese letzte große soziale Aufklärung mit der Tür ins Haus (und dummerweise parallel dazu) in den Zeitraum der erstarkenden Konsumorientierung. Und aus Sex wurde mehr denn je Produkt, Objektifizierung, Fetisch. Und somit konnte er sich nicht von seiner alten Aufladung mit Machtmitteln aller Art emanzipieren.

Es wäre auch zu schön gewesen, innerhalb von zwei, drei Generationen Missstände von Jahrtausenden aufzuarbeiten. Wie lange wurden Frauen und Mädchen Rechte abgesprochen, um die bewährte »soziale Stabilität« mit dem Preis der Unterdrückung zu sichern. Macht kommt im Gewand alles Machtvollen. Weniges hat so viel Macht wie Sexualität.

Lessings Idee der »Erziehung des Menschengeschlechts« scheitert an der letzten Konsequenz: in der notwendigen Entwertung aller Macht und einer Aufwertung der Sexualethik. Zu oft ist Sex entweder nur Schmuddel-Thema, Genusslifestyle, kokettes Amüsement, billiger Klatsch, stumpfe Reproduktionswissenschaft. Oder eben Instrument. Manipulator. Druckmittel. Der Mensch wird nicht müde, Sex mit Funktionen aufzuladen.

Aus diesen diversifizierten Nischen heraus fehlt die Energie, eine neue Aufklärung anzustoßen. Eine Aufklärung, die zur Entmachtung von Machtstrukturen führt. Sex darf kein Werkzeug der Gewalt sein. Doch er ist es — so klar der vorherige Leitsatz sein mag, so oft dient die Sexualität der Funktion von roher, gewaltherrschaftlicher Bemächtigung eines anderen Menschen.

Unsere Zivilisation hat es eher und leichter zustande gebracht, dass wir alle zwei Meter an einem W-Lan-Hotspot vorbeilaufen, als dass sie die Unterdrückung durch sexuelle Gewalt ausrotten konnte.

Es gibt Lichtschimmer.

Die Aufarbeitungskommissionen protokollieren sich die Finger wund und die runden Tische bilden die Taskforces eines neuen ethischen Verantwortungsbewusstseins.
Überall kommen Missbrauchsvergehen ans Tageslicht und zur Sprache. Katholische Kirche, Zeugen Jehovas, Sportvereine, Kinderheime — die hässlichen Geheimnisse werden von den Opfern ausgegraben und erfüllen die weite Flur mit den Anblicken zerhackter Seelen. Überall wird mit moralischer Kraft und menschlicher Erschütterung versucht, erfahrenes Leid durch ehrliche Kommunikation in etwas Zweckhafteres als die reine Traumabewältigung zu überführen. Um zu warnen. Um zu beratschlagen. Um zu schützen. Um zu lernen. Um letztendlich zu verhindern.

Derzeit befinden wir uns ja in einer nie dagewesenen Phase der kollektiven moralischen Entrüstungsmanie und einer über moralische Konsequenzen verhandelnden Wertedebatte.
Kevin Spacey kriegt keine Rollen mehr, Harvey Weinstein entschädigt sich bis aufs letzte Hemd und die #MeToo-Debatte hat jeden durch die Medien getragenen Altherrenwitz als zu Tode verurteilt klassifiziert. Doch das ist so lange effekthascherisches Clickbaiting, bis es was in den Menschen wirklich verändert.
Bis dahin ist es nur Reaktion, ist es nur Wahrnehmung.

Solange das Vorhandensein eines Hodens einem Menschen Vorteile einbringt, so lang müssen wir die Grausamkeiten von sexueller Gewalt ertragen.
Solange sich emotional verunsicherte Hinterwäldler und Traditionsfanatiker über »Gender-Gaga« echauffieren, sich für hyperfeminine und hypermaskuline Uraltrollenbilder einsetzen, so lang wird die Qual anhalten, die wir verspüren, wenn wir von Vergewaltigungen erfahren. Solange werden Macht und Sex das Pech und Schwefel unserer Welt bleiben.

Die größte Scham der Gattung Mensch war es stets, zur Gattung Mensch zu gehören. Und nur wer diese Scham spürt, hilft vielleicht den Schmerz des Lebens zu lindern.

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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