Eintrag kulturelles Tagebuch: 24. Mai; Apokalypse

Liebe Leser, ich bin grad in einer ganz ganz misslichen Lage. Es ist furchtbar, ganz furchtbar.

Seit Monaten versorge ich die Buchstaben-Konsumenten des Online-Lokalkompass' mit Berichten über die offene Bühne im Scala Kulturspielhaus, und ich wollte auch über den letzten Donnerstag schreiben, aber… Schrecklich. Mein vorgeschriebener Text ist unauffindbar! Ich habe überall gesucht! Sowas ist mir noch nie passiert. Da fehlte nur noch die Einleitung, sonst war's fertig! … Es tut mir so leid.
Ich kann nur hoffen, dass die Notizen in naher Zukunft doch noch auftauchen.
Man kann sich gar nichts Schlimmeres vorstellen!

Ich suche jetzt weiter. Wünschen Sie mir Glück!
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Zeit vergeht…
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Nachrichtenticker 13.04.2031
+++Letzte Bitcoin-Speicher gelöscht; Apple's Digitalwährung iDollar dominant+++Klonen von Menschen offiziell erlaubt+++Züchtung von Sojapflanzen mit tierischem Eiweiß erfolgreich+++
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Wesel, vierzehnter elfter Zweitausendsiebenundneunzig;
Tagebuch von Timmy Kampmann Jr. III.

Dieser Tag ist ungewohnt beschaulich und mit 34°C angenehm kühl gewesen. Der Klimawandel ist wohl mittlerweile abgeschlossen, und uns allen wurde die Lehre erteilt: "es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Hitzeschutzanzüge". Zum ersten Mal nach der Apokalypse kam ich dazu… ach ja — die Apokalypse. Immer wenn man denkt, man hätte sie vergessen… Das fing ja alles an, als Donald Trumps zweiter Klon mithilfe des russischen Geheimdienstes aufdeckte, dass der deutsche Kanzler Kevin Kühnert in Wirklichkeit Jan Böhmernann mit Gesichtsmaske war. Chaos brach aus. Irgendjemand hat erst das Internet, und dann das ganze digitale Geld gelöscht. Dann kamen die genmanipulierten, menschenfressenden Sojapflanzen. Der Schwarm, wir sagen euphemistisch "Blumenstrauß", der Schwarm in der Größe des Saarlandes zieht derzeit weiter ins Saarland und die Ruhe kehrt wieder ein. Früher hatten die Leute Schiss vor den apokalyptischen Reitern, mittlerweile würden wir die Pferde von ihnen schlachten und Bolognese daraus machen.
Auf alle Fälle konnte ich heute in leeren Vanilla-Halva-Riegel-Kartons meines Großvaters Timmy Kampmann Notizen aus dem Ende der Zehner Jahre von einer offenen Bühne auffinden. Der scheint damals so eine Art Chronist, oder so etwas ähnliches gewesen zu sein. Seine Texte haben mich nachdenklich gestimmt — es war damals alles so anders als heute. Eine ganz andere Welt. Ich habe mich entschieden, das abzuschreiben. Vielleicht wird es in weiteren 80 Jahren wieder erneut gefunden. Wer weiß?!

Mal wieder der offenen Bühne beigewohnt.

  • Die traurige Folge zu großer medialer Routinierung — das wurde mir jetzt unumkehrbar bewusst — ist die »Stigmatisierung von Klavierspiel als Hintergrundmusik«. Egal, ob es die Lebensgeschichte eines zum radikalen Vegetarismus konvertierten Fleischermeisters ist oder die Nahaufnahme eines Schnabeltassen produzierenden 3D-Druckers: überall klimpert konditionierend Klavier. Da musste erst Christian Spelz kommen, sich hinsetzen — vor ein gutes, keyboardisches Phantomklavier — und Harmonien aus der Hammerschlagmechanik hervorlocken, bis aus dem »Hören« ein »Zuhören« wird.
  • Bei der wohltuenden, einfach schönen Stimme von Sängerin Ann-Kathrin Scholten kam ich zudem spontan auf eine (Geschäfts)Idee: da draußen gibt es sicher einige Mikrofone, die unter akustisch-posttraumatischer Belastungsstörung leiden, nachdem sie auf einem Death Metal-Konzert stundenlang angeschrien wurden und unter Speicheltröpfchen-Waterboarding litten. Ann-Kathrins Stimme kann mit emotionaler Wucht und einfühlsamer Stärke rehabilitierend zum Wohlbefinden jedes Mikrofons beitragen. Was für Menschen gilt, gilt schließlich auch für Mikrofone. Erst mit ihrer Stimme fesseln, dann heilen: "A.K.S. Musiktherapie für Schallwandler"

[- Öffnungszeiten der jeweiligen Patentämter an der zuständigen Behörde zu erfragen.]

  • Banjolelenspieler Akke produzierte stilistisch für die Ohren das, was Piña Colada für die Zunge und Hawaiihemden für die Augen sind. Und egal, was er dazu sang — die Schallwellen blieben exotisch blumenkettenförmig und unterhaltsam.
  • John Soulbeck wälzte sich mit seiner Gitarre raunend in Täler tonaler Verseelung und Ralf Lukas erkundete mit seinem Plektrum die vielen Saiten des amerikanischen Folk, ohne deutsches Liedgut zu verschmähen.
  • Jacqueline Bracht sang derart melodiös feinabgestimmt und im besten Sinne ausgereift, sodass durch's Publikum (wie ein Staffelstab der Bestätigung) ein geflüstertes "schöön" durch die Reihen weitergereicht wurde. Gesangliches Gütesiegel.
  • Und ohne Rücksicht auf das physiognomische Erscheinungsbild überlegt man sich, ob zwei weitere Ohren nicht eine tolle Möglichkeit wären, mehr davon hören zu können… es gibt mittlerweile gute Chirurgen!

Scala ist ein Wunderbaum. Aber nicht so ein Wunder-Baum [eingetragene Formmarke], der seine olfaktorische Aufdringlichkeit in die Nasen Unschuldiger stopft, und auch nicht so ein Wunderbaum, der auf den lateinischem Kosenamen Ricinus communis hört — es ist ein Wunderbaun, an dem Früchte wachsen, die menschliche Arme durch eine bisher unbekannte und unbemerkte, neurologisch angesteuerte Aufziehmechanik antriggern, was sich unter Freude und Überraschung entlädt und sich in Applaus äußert.

Sowas haben die Leute laut den Aufzeichnungen meines Großvaters also damals so angestellt.
Nun ist es bewiesen:
FRÜHER WAR ALLES BESSER!

Autor:

Timothy Kampmann aus Wesel

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