Kurze Replik zum Antrag "Zusammen lernen - zusammenwachsen: Eckpunkte für den Weg zur inklusiven Schule in NRW"

Der im Titel genannte Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im nordrhein-westfälischen Landtag ist als Drucksache 16/118 über die URL http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD16-118.pdf [Download: 30.06.2012] abrufbar. Dieser Antrag bereitet mir Kopfschmerzen, weil er den Kern des Problems nicht aufgreift - und ich rede hier als Mensch mit einer im Alter von 12 Jahren erworbenen Behinderung. Ich kenne mit meiner erworbenen Behinderung beide Schulsysteme - Sonder-/Förderschule und Allgemeine Schule. Erstgenanntes System habe ich, wegen ihres ausschließenden Charakters, nie für tauglich und überlebensfähig befunden. Und das führt zu meiner Kritik an der im Antrag genannen sonderpädagogischen Unterstützung. Wenn wir Inklusion durchführen, dann bedürfen wir der Sonderpädagogik nicht mehr. Vielmehr brauchen wir eine Allgemeine Pädagogik, wie Georg FEUSER sie schon früher forderte (vgl. z. B. http://bidok.uibk.ac.at/library/feuser-didaktik.html [Download: 03.07.2012]). In der Lehrerausbildung sollen die Lehramtsanwärter so ausgebildet werden, dass sie sich einer entwicklungslogischen Didaktik bedienen und nicht Sonderwege gehen. Eine entwicklungslogische Didaktik braucht keine Sonderpädagogik. Die Sonderpädagogik muss als akademischer Ausbildungsgang mit Blick auf Inklusion verschwinden, entsprechende Fakultäten müssen geschlossen werden. Lehrerbildung, die Inklusion will, geht nur mit einer Allgemeinen Pädagogik und einer entwicklungslogischen Didaktik - und das ist eine gemeinsame Unterrichtsentwicklung, "die das einzelne Kind in den Mittelpunkt stellt," wie es auf Seite 2 des Antrags heißt. So wir uns korrekterweise von der Sonderpädagogik verabschieden, ist auch die auf Seite 5 des Antrags geforderte sonderpädagogische Förderung obsolet. Die Förderung verläuft nicht sonderpädagogisch, sondern entwicklungslogisch, wie bei jedem Menschen.
Ein zweiter Punkt, den es zu kritisieren gilt ist der des Fehlens der Meinung der Behinderten, wie ich sie in einer kleinen Literaturstudie einmal herausgestellt habe. Abrufbar ist sie über die URL http://www.psychologie-aktuell.com/fileadmin/download/esp/1-2009/rensinghoff.pdf [Download: 30.06.2012]. Nicht alle Behinderten stehen der Inklusion so aufgeschlossen gegenüber, wie es sich die InklusionsforscherInnen wünschen.
Drittens ist zu bemängeln, dass der Antrag Artikel 24 Absatz 4 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (URL http://www.netzwerk-artikel-3.de/attachments/093_schattenuebersetzung-endgs.pdf [Download: 30.06.2012]) nicht erwähnt und entsprechende Forderungen stellt. Hier geht es um die Einstellung von LehrerInnen mit Behinderungen. Die VerfasserInnen des Antrags gehen wohl davon aus, dass Behinderte für das Lehramt ungeeignet sind. Zum Glück sieht das die UN-Behindertenrechtskonvention, u. a. auf das Peer Support (vgl. Artikel 26 der UN-Behindertenrechtskonvention) blickend, nicht so!
Ein vierter Kritikpunkt soll Erwähnung finden. Hierbei handelt es sich um das zeitliche Problem. Im Antrag heißt es auf Seite 4, dass "der Umstrukturierungsprozess schrittweise vollzogen werden" muss. Das ist falsch. Ernsthaft betriebene Inklusion muss ihr Augenmerk auf alle Bildungsebenen richten. Inklusion muss in der Elementarstufe, Primarstufe, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II (einschließlich gymnasialer Oberstufe) und in der trtiären Bildungsstufe zeitgleich durchgeführt werden. Keine Bildungsstufe darf hier bevorzugt oder nachteilig behandelt werden. Sollte eine Benachteiligung beispielsweise in der Sekundarstufe II und des tertiären Bildungssektors eintreten, dann fallen die heute älteren Behinderten aus der Inklusion heraus. Dann sind diese Menschen gewissermaßen die Opfer der Inklusion! Politisch ist somit zu fordern, dass der Umstrukturierungsprozess zum Wohle aller gegenwärtig lebenden Behinderten zügig/auf dem schnellsten Wege vollzogen werden muss!
Letztlich ist den AntragstellerInnen vorzuwerfen, dass sie sich nicht mit dem befasst haben, was nach der Schule kommt - und das ist in Artikel 27 der Vereinbarung über die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit Arbeit und Beschäftigung überschrieben. Scheinbar wollen die VerfasserInnen die Behinderten nach der schulischen Inklusion dann wieder in die berufliche Segregation bis hin zur Isolation in Sondereinrichtungen abschieben. Das ist inhuman und nicht zu akzeptieren! Der Antrag regt zum Protest an!

Zum Schluss erlaube ich mir Sie auf meinen Kommentar zur inklusiven Bildung an Hamburgs Schulen zu verweisen, der über die URL http://www.lokalkompass.de/witten/politik/stellungnahme-zur-drucksache-203641-der-buergerschaft-der-freien-und-hansestadt-hamburg-vom-27032012-inklusive-bildung-an-hamburgs-schulen-d188737.html abrufbar ist.

Autor:

Dr. Carsten Rensinghoff aus Witten

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