Die Erinnerung als Teil des Alltags

Sie kamen vor allem aus der Ukraine, wurden unter unmenschlichen Bedingungen in Baracken zusammen gepfercht und mussten beim Bochumer Verein für die Nazi-Rüstungsindustrie schuften: Bis zu 1000 Zwangsarbeiter aus dem Osten waren zeitweise im Lager „Saure Wiese“ interniert. An ihr Schicksal erinnert nun eine Kunst­installation. 

Der Bochumer Künstler Marcus Kiel nutzte für sein Projekt „Laute Stille“ Zeugnisse der Überlebeden - das historische Geschehen soll in der Gegenwart spürbar werden. Foto: Molatta | Foto: Foto: Molatta
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  • Sie kamen vor allem aus der Ukraine, wurden unter unmenschlichen Bedingungen in Baracken zusammen gepfercht und mussten beim Bochumer Verein für die Nazi-Rüstungsindustrie schuften: Bis zu 1000 Zwangsarbeiter aus dem Osten waren zeitweise im Lager „Saure Wiese“ interniert. An ihr Schicksal erinnert nun eine Kunst­installation.

    Der Bochumer Künstler Marcus Kiel nutzte für sein Projekt „Laute Stille“ Zeugnisse der Überlebeden - das historische Geschehen soll in der Gegenwart spürbar werden. Foto: Molatta
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Installation von Marcus Kiel will einen „Denk-Ort“ schaffen

Kinder aus der Nachbarschaft üben hier Radfahren, Hundebesitzer führen ihre Vierbeiner Gassi, ab und zu dreht ein Jogger seine Runden: Die „Saure Wiese“ liegt versteckt an der Essener Straße, an der Grenze zwischen Bochum und Wattenscheid. Aus der ehemaligen Kippe ist längst ein Naherholungsgebiet für die Menschen des Stadtteils geworden. Doch so beschaulich sah es hier nicht immer aus. Denn was die Wenigsten wissen: Zwischen 1942 und 1945 war hier ein Zwangsarbeiterlager des Bochumer Vereins. Die Geschichte dieses Ortes soll jetzt wieder verstärkt in den Fokus gerückt werden.

„Laute Stille“ heißt die Installation des Bochumer Künstlers Marcus Kiel, mit der die „Saure Wiese“ zu einem Gedenkort für das ehemalige Zwangsarbeiterlager werden soll. „Ich wollte etwas, was droht, vergessen zu werden“, wieder sichtbar machen, so der Bochumer Künstler über sein Projekt. Es besteht aus fünf Betonsteelen, die stählerne Zitate aus Briefen von Überlebenden des Zwangsarbeiterlagers tragen und die über das gesamte Gelände verteilt sind. Hinzu kommt ein Gedenkort mit vier Dokumentations- und Erläuterungstafeln.
Die Briefe ehemaliger Zwangsarbeiter aus dem Osten - vor allem der Ukraine - wurden von der Gesellschaft Bochum-Donezk und der Ini­tiative „Entschädigung jetzt“ gesammelt und in Buchform veröffentlich. Mit ihnen hat sich Marcus Kiel im Vorfeld intensiv beschäftigt, um die Zitate zu finden, die nun seine Installation „Laute Stille“ Eingang fanden.
„Ich habe mich ganz bewusst gegen ein zentrales Mahnmal entschieden“, erläutert der 47-Jährige, warum er auf ein klassisches Denkmal verzichtet hat. Er wollte keinen Ort für eine erzwungene Erinnerungskultur aus Sonntagsreden und Kranzniederlegungen schaffen.„Die Menschen, die die ‚Saure Wiese‘ nutzen, werden durch diese dezentrale Anordnung immer wieder mit der Geschichte des Ortes konfrontiert.“ Die Steelen führen die Passanten zum Standort des früheren Zwangsarbeiterlagers. Die Erinnerung, so wünscht sich Kiel, solle auf diese Weise in den Alltag zurück geholt werden.
Die Erinnerung in den Alltag zu integrieren - das war auch bei früheren Arbeiten von Marcus Kiel stets das Ziel. So stammt von ihm beispielsweise die Installation „Etappen der Gewalt“, das unter der Eisenbahnbahnbrücke an der Viktoriastraße zu sehen war und mit großformatigen Fotografien an Bochumer Widerstandskämpfer, Politiker und Gewerkschafter erinnerte, die wegen ihres Engagements von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Der Bochumer Künstler hat sich in den vergangenen Jahren wiederholt mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und mit der Ausländerfeindlichkeit in der Gegenwart beschäftigt.
Schon im Zuge der Renaturierung der ehemaligen Kippe „Saure Wiese“ machte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) auf die besondere Bedeutung des Ortes für die Stadtgeschichte aufmerksam und mahnte eine Erinnerung an die ehemaligen Zwangsarbeiter an. Marcus Kiel wurde mit einem künstlerischen Konzept beauftragt.
Gereizt hat ihn vor allem der Ort: „Die Saure Wiese ist ein Ort mitten in der Stadt, aber trotzdem weitgehend unbekannt.“ Ein Nicht-Ort, obwohl umgeben von Siedlungen und in Sichtweite des Thyssen-Krupp Werkes sowie an der vielbefahrenen Essener Straße gelegen. „Bei meinen Arbeiten hier habe ich bemerkt, dass die Geschichte dieses Ortes den meisten jüngeren Menschen unbekannt ist. Nur einige Ältere haben davon gehört - und das auch oft nur aus zweiter Hand.“

Höchste Zeit also für einen Gedenkort - nachdem Anwohner die „Saure Wiese“ längst als Naherholungsgebiet angenommen haben, bekommen sie nun auch den so lange verborgenen Teil dieses Ortes zurück - die Installation bietet die Chance zu einer gelebten Erinnerungskultur.
Offiziell eröffnet wird die Installation am „Tag der Befreiung“, Dienstag, 8. Mai, um 18.30 Uhr, durch Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz. Dann werden auch ehemalige Zwangsarbeiter aus der Ukraine mit dabei sein.

HINTERGRUND:

Die „Saure Wiese“ wurde ehemals als Kippe genutzt und daher eine Altlastenfläche. Von 2006 bis 2010 vom städtischen Umwelt- und Grünflächenamt saniert.
Zwischen 1942 und 1945 stand hier ein Zwangsarbeiterlager des Bochumer Vereins für Gussstahlfabrikation (Rechtsnachfolger heute: Thyssen Krupp Steel), der ein wichtiger Teil der NS-Rüstungsindustrie war.
Bis zu 1000 Zwangsarbeiter lebten zeitweise in den Baracken. Sie kamen vor allem aus der Ukraine und gehörten damit zu den besonders diskriminierten „Ostarbeitern“
Im Zuge der Sanierung des Geländes bildete sich ein Arbeitskreis aus VVN, Stadtarchiv und Umwelt- und Grünflächenamt, der den Künstler Marcus Kiel mit einem künstlerischen Konzept für die „Saure Wiese“ beauftragte.

Autor:

Petra Vesper aus Bochum

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