Die Trägheit des Herzens - ein Erlebnis -

Damals am Bahnhof - Die Trägheit des Herzens -
In dieser negativ düsteren Zeit, in der jeder gewohnt ist an sich selbst zu denken und, wie Dr. Maaz sagt, sich normopathisch verhält, erlebte ich eine Begebenheit in einer fremden Stadt, einer ungewohnten Stadt und es ging mir noch lange nach.
Was hatte ich an dem Ereignis nicht verstanden und wieso hatte ich mich selbst nicht verstanden?
Von einem esoterischen Verein inspiriert, deren Mitglieder ich aber wenig erst nahm, da sie statt Esoterik Eigenes im Sinn hatten, traf ich eine Frau mittleren Alters, die sich für eine Wahrsagerin hielt und das Unglück nahm seinen Lauf.
Ich erzählte  offen aus meinem Leben, und alles was ich sagte, drehte sie negativ herum, es könne auch ganz anders gewesen sein und im Endeffekt, so schien es mir, sprach sie mich schuldig, mich falsch oder ungenügend verhalten zu haben. Beim Abschied warf sie mir hinterher, sie sage mir immer die Wahrheit.
Was aber war die Wahrheit? Was verstand sie unter Wahrheit?
Als ich an der Bushaltestelle voll kaltem Hass saß, musste ich meinen eisigen Blick von den anderen abwenden, er sollte sie nicht treffen. Ich wollte alleine sein.
Mein Umstieg am Bahnhof erforderte einen längeren Aufenthalt.
Ein Rollstuhlfahrer, ein völlig verdreckter junger Mann, dem ein Bein fehlte, fuhr an den Wartebänken vorbei, hielt vor mir an und schaute mich an.
Hatte er gebettelt, ich weiß es nicht.
Er blieb vor mir sitzen und schnaufte und schluckte und es sah aus, als ob er weinte. Mein generierter Hass auf die Menschheit schmolz, doch trotz aufsteigendem Mitgefühl war ich unfähig, meine beiden gefassten Gefühle in Einklang zu bringen.
Einige Zeit später rollte er weiter zur nächsten Wartebank.
Hätte ich ihm helfen, ihn mit nach Hause nehmen, ihn waschen und pflegen sollen? Aus meinem Mitleid war keine Tat geworden. Mit aufkommendem Unwohlsein eines schlechten Gewissens ging ich hinter ihm her, gab ihm eine Zigarette, ein versuchter Freispruch für mich selbst.
Dieser junge schmutzige Rollstuhlfahrer ging mir immer wieder durch den Kopf, gleichsam die Verwicklung mit einer Frau, die das Böse in mir freigelegt und es als Wahrheit bezeichnet hatte.
Dostojewski ließ einmal eine Figur sagen: - Die Menschheit zu lieben, ist das Eine, aber einen Menschen, ganz praktisch, ganz nahe, man könnte sagen, als unseren „Nächsten“, da ist das andere und weitaus schwerer.-
War Wahrheit eine Lüge, um Futter für sein Ego zu bekommen? Oder war Wahrheit die Wirkkraft des Herzens, wie Viktor Frankl sagte, auch in der Nähe, gerade in der Nähe, wenn man ganz praktisch gefragt ist? Und gab es auch eine mangelnde Tatkraft im vorhandenen Mitgefühl?
Das war auch eine Wahrheit.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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