Friedhofsgedanken auf Bochumer Friedhof

Friedhofsgedanken – eine Erzählung
Beim Abschied des Jahres, wenn sich die Natur zur Ruhe begibt, hoffend auf neues Leben, sind auch die menschlichen Gemüter mitunter etwas besinnlicher.
So ging ich auf den nahe gelegenen Friedhof, um ein paar Engel auf den Gräbern zu fotografieren. Eine Frau sprach mich fast wütend an: „Was machen Sie denn da? Wieso fotografieren Sie die Gräber? Gehören Sie zum Friedhof?“
„Ich bin Künstlerin und will ein paar Engel fotografieren. Ich bearbeite dann die Fotos und verschicke sie.“
Die etwa 75jährige Frau war gut gekleidet, sehr gepflegt und sah für ihr Alter recht fit aus. Sie kam sofort zum Thema: „Wissen Sie! Gestern war im Fernsehen eine Sendung, dass sie Briefe von deutschen Soldaten von 1941 gefunden haben. Auf Jersey. Da war ein Lager. Ich hab sofort bei der Kriegsgräberfürsorge in Kassel angerufen und die hat mich weiter nach Berlin geleitet. Stellen Sie sich vor, vielleicht ist da ein Brief von meinem Vater. Der ist 1944 umgekommen.“
Sie zerbrach sich den Kopf darüber, wenn nun ein Brief von ihrem Vater existiere, wohin er dann wohl geschickt werden würde und ging alle lebenden Verwandten durch, hatte auch deswegen ihren Bruder informiert. „Immer, wenn ich Geld habe, fahre ich mit der Kriegsgräberfürsorge nach Frankreich, in die Nähe von St. Michel. Da ist der große Friedhof, wo mein Vater liegt.“ Sie beschrieb alle Einzelheiten, die Kreuze, den gesamten Friedhof. Auch hatte sie Kontakt zu der Tochter jenes Soldaten, der auf dem gleichen Kreuz wie ihr Vater vermerkt war, aufgenommen.
Es war ihr ein riesiges Anliegen. Desgleichen erzählte sie von ihrem verstorbenen Mann: „Erst war ich drei Mal am Tag auf dem Friedhof. Ich konnte nicht anders. Ich musste hingehen. Jetzt muss ich es wenigstens noch einmal am Tag gehen. Wenn man doch nur alles richtig gemacht hätte, als sie lebten. Meine Schwester sagt: - Mehr konntest du nicht tun – aber…“
„Hätte, hätte ist vorbei…“ wandte ich ein.
„Ja“ sagte sie.
„ Ich hab einmal gehört“ begann ich vorsichtig „ Wenn wir einen Menschen lieben, dann können wir ihn gar nicht perfekt lieben. Das müssn wir auch gar nicht. Wir sind eben unperfekte Menschen und auch unsere Liebe ist unperfekt. Nur Gott liebt perfekt. Nur Gott kann, was wir nicht können.“ Einen Moment stutzte sie, dann breitete sich plötzlich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, erhellte sich und ihre Augen begannen zu strahlen. Sie sah mit einem Male sehr jung aus. Mit ein paar Scherzen über lustige Grabinschriften trennten wir uns.
„Ich wünsche Ihnen, dass Sie einen Engel finden. Einen großen.“ rief sie mir nach. Ich rief zurück: „Und, denken Sie daran, es ist – Jetzt!“-
Ich fand keinen Engel mehr auf den Gräbern. Das war auch nicht schlimm.
Der Engel war in mir.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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