Erschütterte Freundschaft – Dornröschenschlaf

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Liebe Freundin,

heute ist sie plötzlich wieder aufgetaucht. Sie war lange nicht mehr da und ich hatte sie über den Alltäglichkeiten, die mich gefangen nehmen, eigentlich schon fast vergessen. Und doch kam sofort die Erinnerung zurück, als ich sie sah.
Seit ungefähr zwei Jahren geht das jetzt schon so.
Sie mischt sich nachts in meine Träume und bislang habe ich mich immer wie ein neugieriges Kind einfach auf sie eingelassen. Jedes Mal war ich dann fasziniert und staunte über das, was sie mir zeigte und konnte mich kaum lösen. Nein, es ist nicht, was Du denkst. Es ist kein Mensch, der mir begegnet. Es handelt sich um eine Tür.

Diese schlichte Tür, die manchmal da ist und dann wochenlang wieder nicht und die ich dann, wenn sie da ist, im Flur unseres Hauses so unvermittelt wahrnehme, als sei sie aus dem Nebel der Bewusstlosigkeit erwacht, ist niedriger, als eine Tür gewöhnlich ist. Ich muss mich bücken, um mich durch sie hindurchzuzwängen. Und trotzdem hält mich das nicht davon ab, sie zu öffnen, weil ich mich in dem Moment glasklar daran erinnere, dass sie zu einer anderen Seite unseres Hauses führt und es auf dieser Seite noch weitere Räume gibt; wunderbare Räume, die in einen tiefen Schlaf gefallen sind und einfach so vergessen gingen.

Es ist sehr still auf dieser anderen Seite und ich bewege mich fast lautlos, um die besondere Atmosphäre und die Ruhe dieser Brachflächen nicht zu stören. Die Verlassenheit der Räume bedrückt mich regelmäßig, weil sie längst schon einen Keim von Leben in sich trugen, und doch lassen mich ihre Existenz und ihre Schönheit gleichzeitig vor Ehrfurcht staunen. Es sind recht viele Zimmer, die nicht fertig renoviert wurden, ohne dass ich mich konkret daran erinnern kann, warum das nie geschehen ist. So unfertig, wie sie sind, sind sie als Teil unseres Hauses einfach da und es sieht aus, als hätten wir erst gestern aufgehört, etwas darin zu tun. Und trotzdem ist in meinem Kopf sicher hinterlegt, dass eine ziemlich lange Zeitspanne dazwischenliegt. Diese Spanne ist ein Zeitraum, der sich nicht definieren lässt, weil er nicht zu definieren ist: der Zeitumfang eines Behälters ohne Inhalt und ohne jegliche Begrenzung – die Zeitspanne eines Traumas.

Jedes Mal, wenn ich zaghaft diese Tür öffne und andächtig in diese andere Welt hinübergleite, staune ich aufs Neue über mein Vergessen dieser Räume, die so schöne Erker, so interessante Nischen und so wunderbare Fenster haben und die so licht und freundlich wirken und ich frage mich, wieso wir eigentlich nicht weitermachen?
Und dann merke ich, wie intensiv ich diese Schönheit spüren kann und dass ich eine Vorstellung davon entwickle, wie ich in ihnen leben möchte und vor allem, dass ich diese hellen Räume endlich mit Leben füllen und bewohnen will.

Ich schaue auf den alten Teppichboden, der nur zum Schutz des darunterliegenden Parketts hineingelegt wurde und entfernt werden muss, wenn die Renovierung abgeschlossen ist. In allen Ecken sehe ich die Reste der Tapeten liegen, die vom Tapezieren übrig sind und nur noch eingesammelt und entsorgt werden müssten. Die Wände müssen noch gestrichen werden und dann könnte man die Möbel stellen und unsere engen Wohnverhältnisse entzerren. Wir hätten Raum zum Atmen.

Auf meinem Rundgang durch die vielen Räume betrete ich immer auch das Badezimmer, das längst fertig ist und dann beschließe ich, endlich darin zu duschen. Dann ziehe ich mich aus und während ich das warme Wasser über meinen nackten Körper laufen lasse, befällt mich ein Wohlbehagen, das kaum zu beschreiben ist. Es fühlt sich sonderbar und leicht und frei an. Dieses Wasser, das über mich und meinen Körper strömt, wäscht die Belastungen der letzten Jahre ab, je länger ich es laufen lasse. So nackt und befreit von allem und vom Wasser neu geboren spüre ich, dass ich in diesen Räumen leben will, weil sie unser Haus erst vollkommen machen und zu einem wunderbaren Ganzen werden lassen würden!
Und jedes Mal geschieht genau das nicht, so dass ich Wochen später wieder von der Tür träume, die ich öffne, um die stillen unfertigen Räume aufzusuchen und die Bedrückung und Verheißung ihrer Atmosphäre aufzunehmen.

Auch heute Nacht bin ich dort gewesen, weil diese Tür plötzlich wieder da war. Es war alles unverändert und wieder war ich sehr berührt von der verlassenen Schönheit dieser anderen Seite unseres Hauses. Und trotzdem hatte sich etwas verändert. Ich merkte es, als ich aus dem Traum erwachte und langsam zu mir kam und die Gestalt dieser Zimmer mit in die Wirklichkeit hinübernehmen konnte:
bisher fand ich es nur immer faszinierend, dass es da diese anderen Räumlichkeiten gibt und dass meine Phantasie in der Nacht so wunderbare Hausgrundrisse konstruieren kann, die mich derartig erfüllen, dass ich sie auch in meinen späteren Träumen immer wieder aufsuche.

Heute aber habe ich verstanden, was es mit dieser Tür wirklich auf sich hat, die mir im Traum begegnet und durch die ich gehe, um zu schauen, was dahinter ist. Sie transportiert eine Botschaft, die mich auf anderem Wege nicht erreichen kann. Es ist gar keine echte Tür, es ist die Tür zu Räumen meines Lebens, die brachgefallen sind, seit ich in diesem Tunnel lebe, dessen Eingang im November vor sechs Jahren liegt. Mein Leben befindet sich seitdem in einem Stillstand und diese Tür will mir genau das zeigen.

Sie gibt mir zu verstehen, dass es da diese vielen schönen Räume meines Lebens gibt, um die ich mich ganz dringend wieder kümmern muss und dass sie es wert sind, dass man sie mit Leben füllt. Es sind die schönsten und die vielfältigsten Räume eines Lebens überhaupt:
die Räume des Lichtes, der Farben und der Formen,
die Räume der Lebendigkeit und der Lebensfreude,
die Räume der persönlichen Entfaltung und des Wachstums,
die Räume der Kreativität und der Musik
und vor allem die Räume der Menschlichkeit, Geselligkeit und warmherzigen Zuwendung.

Diese Räume sind das Licht am Ende meines dunklen Tunnels, der inzwischen schon sechs Jahre lang geworden ist. Es wird Zeit, ihn zu verlassen und alle diese Zimmer entsprechend meiner Träume zu gestalten, damit ich gut in ihnen leben kann. Bisher war das nicht möglich, weil man sich in einem engen, dunklen Tunnel nur sehr schlecht bewegen kann. Jetzt aber, wo ich sie manchmal wieder sehen kann, beginne ich, Schritt für Schritt herauszutreten und mich langsam aus dem Trauma zu befreien. Es wird noch etwas dauern, bis ich sie bewohnen kann, aber die Tapetenreste kann ich ja vielleicht schon einmal einsammeln.

Gibt es in Deinem Haus auch so eine Tür, die Dich zu unbewohnten Räumen führt, die vergessen gingen und deshalb brachgefallen sind?
Wie sieht es bei Dir mit dem Raum des Lichtes, der Farben und der Formen aus?
Was macht Dein Raum der Lebendigkeit und der Lebensfreude?
Und was macht vor allem Dein Raum der warmherzigen Zuwendung?
Ich bin mir sicher, dass gerade dieser eigentlich so wunderschöne Raum bei Dir in einem eklatant schlechten Zustand ist. Es gibt Anzeichen dafür, dass ich Recht habe. Ja, inzwischen glaube ich, dass es diese Tür auch bei Dir gibt und dass dahinter ziemlich viele Räume liegen, die Du nicht mehr pflegst, weil auch Du in einem Tunnel steckst, nur dass er nicht so lang ist, wie mein Tunnel.

Ich jedenfalls werde hinter meiner Tür unter anderem auch einen Raum einrichten, in dem zwei gleiche Ledersessel und ein kleiner runder Glastisch stehen. An die Wand werde ich einen Schreibtisch stellen und in die Ecke eine Lampe, die man dimmen kann. Auf dem Glastisch wird eine Kerze stehen und an die Wand werde ich ein schönes Bild hängen. Auf diesem Bild werden Schmetterlinge sein, die sich in Wind und Sonne treiben lassen.

Dieser Raum wird auf der Sonnenseite unseres Hauses liegen. Ich werde ihn den „Raum des gegenseitigen Verstehens, des Verzeihens und der Schlichtung“ nennen. Er wird auf Dich warten. In ihm können wir in aller Ruhe nachholen, was Du damals vor sechs Jahren an mir versäumt hast, obwohl Du wusstest, dass mir noch etwas zustand, was sehr wichtig für mich war.
Danach könnten wir uns in Wind und Sonne treiben lassen, wohin wir auch immer wollen. Unsere Flugbahnen würden sich kreuzen und wieder trennen und wieder kreuzen, so wie die Flugbahnen der Schmetterlinge auf meinem Bild an der Wand des Raumes hinter meiner Tür. Vor allem aber wären wir endlich wieder frei – Du und ich,

Simone

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen April 2014

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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