Literatur-Hotel-Preis 2011: Ulrike Schomerus "Mama, chill mal!"

Ulrike Schomerus.
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Mama, chill mal!
Kennen Sie das? „Chill mal!“? Seit einigen Jahren war ihr diese Aufforderung nur zu gut bekannt. Meist wurde sie von einem ihrer Söhne an sie gerichtet und als gute Mutter sah sie sich genötigt sich mit der Bedeutung des Wortes „chillen“ auseinanderzusetzen, zumal es offenbar im Leben ihrer Kinder eine so große Bedeutung hatte. Spätestens an dem Tag, als die Erzieherin ihres, damals dreijährigen, Sohnes sie darüber aufklärte, dass der Knirps allmorgendlich auf ihrem Drehstuhl Platz nahm und verkündete er müsse erst mal eine Runde chillen, begann sie sich ernsthaft damit zu beschäftigen. So bemühte sie zunächst ihr dickes Abiturwörterbuch für Englisch und fand: „chill out“, welches mit „ sich beruhigen, relaxen“ übersetzt werden kann. „ Das passt“, dachte sie und beruhigte sich. Sechs Jahre waren ins Land gegangen, der Knirps neun Jahre alt und die anderen Söhne im Begriff erwachsen zu werden. Sie sah sich inzwischen einer ganzen Generation von „ Chillern“ ausgeliefert. Nicht dass sie nicht bereit gewesen wäre sich zu entspannen, oder gar ihren Kindern diese Entspannung missgönnt hätte. Sie hatte auch ganz und gar nichts dagegen, wenn sie sich zu gegebener Zeit beruhigten, aber sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Aufforderung: sie solle chillen, nicht wirklich bedeutete, sie solle sich entspannen.Vielmehr schien ihr die Bedeutung abhängig von der Situation und der Person, an die es gerichtet wurde. Richtete es sich an die zahlreichen Freunde ihrer Kinder, die Haus und Garten beinahe täglich bevölkerten und wurde es dazu noch von einem ihrer Nachkommen an diese gerichtet, so war die Bedeutung immer: ausruhen; nichts tun; abhängen. Richtete ihre Nachkommenschaft das Wort an sie, bedeutete es hingegen immer: reg dich ab; warte die Zeit ab; beruhige dich. Als sie nochmals ihr Wörterbuch zu Rate zog entdeckte sie unter „ chill“ die Bedeutung: Kältegefühl, Frösteln. Heute erschien ihr das mindestens genauso passend wie die Bedeutung: entspannen. Es fröstelte sie, wenn sie daran dachte, dass man ihr offensichtlich keine Entspannung zugedacht hatte. Aber spielte es überhaupt eine Rolle, was man ihr zudachte? War es nicht vielmehr maßgebend was sie wollte? Sie beschloss, dass sie jetzt an der Reihe sei zu „chillen“. Wie aber sollte sie das anstellen? Die Füße hochlegen während sie aus allen Ecken die Arbeit anstarrte? Das war nicht die Art von Entspannung, die ihr vorschwebte. Zunächst plante sie einen freien Vormittag in einem Einkaufszentrum. Sie freute sich darauf, wie ein Kind auf einen Schulausflug. Endlich war es soweit. Die Kinder in die Schule verabschiedet, die Hunderunde gedreht und ab ging`s auf die Autobahn Richtung Shoppingparadies. Unterwegs dachte sie darüber nach, was sie mit ihrer Zeit anfangen würde. Ein Besuch in der Buchhandlung musste sein, ebenso ein großer Cappuccino in einem Coffeeshop. Was noch? Mehr wollte ihr nicht einfallen, aber allein die Aussicht auf den Cappuccino ließ sie zufrieden vor sich hin lächeln.Sie würde die Zeit einfach nutzen, um weitere „ Chillpläne“ zu schmieden. Sie parkte ihr Auto in einer Seitenstraße und ging den kurzen Weg zu Fuß. Die Sonne wärmte ihr Gesicht und ihr Gemüt und sie lächelte. In der Buchhandlung stöberte sie durch die Kochbuchabteilung und fand ein Backbuch, das sie unbedingt noch haben musste. Sie lächelte als sie mit dem Backbuch unter dem Arm und einem neuen Tagebuch in der Tasche, den Coffeeshop betrat und ihren Cappuccino bestellte. Sie lächelte als die Angestellte ihr, statt eines Holzstäbchens, einen Löffel für den Milchschaum reichte und das Lächeln breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Sie fand einen freien Sessel und blätterte lächelnd durch ihr neues Backbuch, während sie sich vorstellte, was sie am nächsten Sonntag für ihre Lieben backen würde. Ganz weit weg hörte sie ihre innere Uhr ticken, die zum baldigen Aufbruch mahnte. Lächelnd fragte sie sich, ob ihre Söhne noch so chillig drauf wären, wenn ihre überbackenen Würstchensandwiches noch nicht fertig wären, die für heute auf dem Speiseplan standen.Noch einmal lehnte sie sich zurück und dachte an all die Dinge, die sie mit Freude und Zufriedenheit erfüllten und befand, dass das deutlich mehr seien, als die, die sie unglücklich machten. Ihre Arbeit machte ihr Spaß und wenn sie darüber nachdachte, kam sie zu der Erkenntnis, dass sie genau das tat, was sie immer hatte tun wollen. Sie hatte immer viele Kinder haben wollen und die waren ihnen auch geschenkt worden. Sie hatte zuhause bleiben können, um Haus und Kinder zu versorgen und jetzt, da die Kinder älter wurden, hatte sie die Möglichkeit ihre Zeit frei einzuteilen und neben der Arbeit in Haus und Garten, ihren Leidenschaften nachzugehen. Genau betrachtet führte sie doch ein sehr entspanntes Leben. Sicher, es gab hier und da Tage, da wäre sie am Liebsten davongelaufen, dennoch kam sie zu dem Schluss, dass ihr Leben „ echt chillig“ sei. Weitere Pläne brauchte sie nicht zu schmieden. Sie war ganz und gar mit sich und ihrem Leben zufrieden und stellte fest, dass die Fähigkeit wahrhaft zu „chillen“ und Zufriedenheit ganz eng miteinander verbunden sind. „Was bin ich doch für eine glückliche Frau!“, dachte sie, als sie sich erhob. Völlig „gechillt“ kam sie zuhause an. Die Würstchensandwiches wurden rechtzeitig fertig, die Kinder mit einem Lächeln empfangen und Mama wusste: „Nur wer zufrieden ist, ist auch wirklich entspannt.“ Ob ihre Kinder sich dessen bewusst waren? Sie bezweifelte das und lächelte bei dem Gedanken, dass sie viel besser verstand worauf es eigentlich ankam, als ihre Profichiller.

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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