Ihr siebter Himmel

Sie war das, was man früher ein älteres Fräulein nannte. Alle ihre Freundinnen waren verheiratet und schon lange Ehefrauen, Mütter und sogar schon Großmütter. Warum sie nicht diese Freuden genießen durfte, wusste sie selbst nicht so genau, doch es war eine Tatsache, dass sie noch nicht einmal geküsst worden war. Gelegenheiten hatte es genug in ihrem Leben gegeben, doch sie hatte diese leider nie genutzt. Vielleicht weil sie zu schüchtern oder auch zu wählerisch war. Sehr wahrscheinlich kam wohl Beides zusammen.

In ihrem Leben hatte sie sich mehr schlecht als recht eingerichtet. Ein Beruf der ihr zwar nicht viel Freude, und noch weniger Geld einbrachte, ließ sie wenigstens zeitweise ihre Sehnsucht nach einem Partner vergessen. Doch nun war sie im Herbst ihres Lebens angekommen. Seit sie sich im Ruhestand befand, hatte sie mehr Zeit als ihr gut tat. Auch ihre geliebten trivialen Romane, die alle von der großen Liebe handelten, konnten sie nicht mehr befriedigen.

‚Einmal in meinem Leben möchte ich auch geküsst werden’ dachte sie bei der Lektüre ihrer Schmalzromane. ‚Wie es wohl ist, von einem Mann geküsst zu werden’ seufzte sie in sich hinein. Ihre Sehnsucht wurde immer größer. Sie wollte auch diese Wonnen erleben wie sie in ihren Romanen beschrieben wurden. Einmal das Versäumte ihrer Jugend nachholen. Doch sie gab sich keinen Illusionen hin. Es wartete kein Prinz mehr, der sie begehrte und entführte, auf sie.

Wie sollte sie sich ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen? Da sie trotz der Scheinwelt, in die sie beim Lesen ihrer Liebesromane so gerne flüchtete, im realen Leben mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, kam ihr der Gedanke an eine Vermittlungsagentur. Die einfühlsame Dame am Telefon machte es ihr leicht. Sie fühlte sich verstanden als sie ihren Wunsch, nach einem Kuss und nicht mehr, äußerte. Das Treffen mit dem Mann ihrer Träume sollte bei ihr zu Hause stattfinden.

Wie aufgeregt sie war. Heute sollte es passieren. Er schellte pünktlich an ihrer Haustüre und sie ließ ihn ein. So hatte sie ihn sich vorgestellt. Gutaussehend und sympathisch. Sie fühlte sich wie ein junges Mädchen. Nach einer formvollendeten Begrüßung saßen sie zusammen auf dem Sofa und hörten romantische Musik. Der Sekt den sie getrunken hatte, machte sie immer lockerer und anschmiegsamer. Sie merkte, dass es jetzt bald soweit war. Sie würde den ersten Kuss ihres Lebens bekommen.

Er beugte sich über sie und berührte zart ihre Lippen. Die Gefühle die sie durchströmten waren unvergleichlich. ‚Bitte lass es nie mehr aufhören’ dachte sie. Niemals hätte sie gedacht, dass küssen so schön sein kann. Die Beschreibungen in ihren geliebten Romanen waren ein Abklatsch gegen die Wirklichkeit. Es war ein Rausch der Sinne. Sie schwebte im siebten Himmel der Glückseligkeit. Als der Kuss endete, fand sie nur sehr schwer in die Wirklichkeit zurück.

Der Mann lächelte sie an und sagte: "Bitte lege das Geld auf den Tisch bevor ich gehe". Es war ihr egal. Sie wusste ja schon vorher, dass sie für diesen Ausflug in die Sinnlichkeit bezahlen musste. Und etwas Wunderschönes hatte sie dafür bekommen. Sie hatte sich verliebt. Verliebt in ein Gefühl. Es gehörte ihr allein und machte sie glücklich. Und nur das zählte für sie.

© pefito

Autor:

Petra Tollkoetter aus Dinslaken

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