(Fast) ohne Worte – The Artist

Wir schreiben nicht etwa 1925, sondern das Jahr 2012: Ein schwarz-weißer Stummfilm aus Frankreich tritt an gegen High-Tech-Popcornkino in 3D und mit Dolby-Surround. Kann das gutgehen?

Die Erfindung des Tonfilms Ende der 20er Jahre war die Umwälzung im Kino. Viele Schauspieler, Chaplin zum Beispiel, sahen den Stummfilm als die größere Kunstform an, und Chaplin drehte noch 1936 „Modern Times“ ohne Dialoge, nur mit Tönen. Stars der Stummfilmära mussten sich umstellen, für einen Star reichten da zwei Worte: „Garbo talks!“ - ein epochemachendes Ereignis.

Meine erste Begegnung mit „The Artist“ von Michel Hazanavicous ist rund ein halbes Jahr her. Damals wurde der Trailer zu dem Film im BBC-Fernsehen gezeigt, und ich fragte mich: „Ich das ein alter Film?“ Nach ein paar Recherchen war klar: Es ist ein neuer Film, stumm und in Schwarz-weiß. „Interessant; dachte ich, wird sicher nett“. Doch dieser Film ist nicht nur nett und nostalgisch, er ist richtig gut. Mit dieser Meinung stehe ich offensichtlich nicht alleine, denn mittlerweile hat „The Artist“ schon etliche Preise abgeräumt und ist für zehn Oscars nominiert. Aber warum? Der französische Regisseur Michel Hazanavicous ist nicht nur hierzulande wenig bekannt, auch die beiden Hauptdarsteller Jean Dujardin und Berenice Bejo kennen nur wenige Kinogänger aus den vorhergehenden Hazanavicious-Filmen, den mäßig komischen Agentenparodien-Reihe „OSS 117“. An den folgenden Stummfilm traute sich so recht keiner ran: The Artist wurde als Koproduktion gedreht, mit einem geradezu lächerlichen Budget von zwölf Millionen Dollar.

Auch die Geschichte von The Artist ist recht banal und schnell erzählt: Stummfilmstar George Valentin trifft auf die Nachwuchs-Komparsin Peppy Miller. Der Tonfilm kommt, das freche Starlet macht Karriere, der Stummfilmstar verschwindet pleite in der Versenkung. Es folgt ein Brand und eine melodramatische Rettung, schließlich machen Peppy und Valentin, nun ein Paar, gemeinsam einen Film- mit Ton und Tanz, Ende. Abenteuerfilm, Romanze, Spionagegeschichte, Komödie und Tanzfilm – alles ist drin in diesem Film. Auch eine große Portion Nostalgie. Die Anfangsszene zeigt ein vollbesetztes Kino im Jahr 1927. Ein großes Orchester begleitet die Filmvorführung in einem prunkvollen Kinosaal, vom Film schwenkt die Kamera in das Publikum.

The Artist ist in erster Linie ein Film über das Filmemachen und kann sich mit einem großen Bruder wie „Die Amerikanische Nacht“ von Francois Truffaut durchaus messen. Man sieht deutlich, dass sich Hazanavicous ausgiebig mit den Klassikern des Film von Wilder bis Hitchcock beschäftigt hat. Aus Hitchcocks „Vertigo“hat er sogar ein Fitzelchen der Filmmusik verwendet, was ihm Hollywood Star Kim Novak deutlich übel genommen hat. Apropos Musik: Sie wechselt zwischen Jazz und Orchestermusik, je nach Stimmung, ein gesungenes Stück ist dabei: „Pennies form Heaven“, gesungen von Rose Murphy. Das Lied ist zwar von 1936, das macht aber nix. Die Musik zum Film war auch schon preiswürdig: Sie bekam den European Film Award.

Jean Dujardin kommt wie Douglas Fairbanks daher, ein strahlender Sunnyboy mit Bleistiftbärtchen und pfundweise Charme. (Der wird nur noch übertroffen von seinem Hund Jack, der schon für einen eigenen Oscar nominiert ist). Berenice Bejo ist als Peppy eine selbstbewusste und kecke, aber auch gefühlvolle Frau, die Valentin lange heimlich liebt. Auch die Nebenrollen sind überragend besetzt: John Goodman ist als Filmproduzent hervorragend, James Cromwell als Chaffeur Clifton ein ebensolcher Stoiker wie Cromwell als Farmer im „Ein Schweinchen namens Babe“. In einer winzigen Rolle ist Malcom McDowell zu sehen. Diese Details machen den Film besonders sehenswert, von den vielen Details und der akribischen Arbeit des Kostümbildners gar nicht zu reden. Das ist einfach schön anzusehen, und wer alte Film-Standbilder und Fotos von Schauspielern und Studios kennt, wird die Atmosphäre und die Bilder zu schätzen wissen.

Für seine Film-Geschichte hat Hazanavicous wirklich schöne und poetische, aber auch wuchtige Bilder gefunden, wenn sich der abgerissene Valentin zum Beispiel in einer Schaufensterscheibe in einem Frack spiegelt und sich so an alte Zeiten erinnert, oder wenn sein Gesicht in einer Alkoholpfütze verschwindet. Auch Geräusche werden mit Beginn des Tonfilms sparsam, witzig und wirkungsvoll eingesetzt, da wird eine zu Boden fallende Feder zum großen Knall.

The Artist wird die Reihe der Klassiker eingehen, die Hollywood und den Film zum Thema haben. Kein ganz großer Film, doch ein sehr guter, dessen Erfolg gerade in Amerika ein bezeichnendes Licht auf den Zustand des Kinos in Hollywood, aber auch den Zustand der Vereinigten Staaten wirft: Da muss erst jemand aus Europa kommen, der Amerika die eigene glorreiche Geschichte in Erinnerung ruft. The Artist dürfte wohl für ein paar Oscars gut sein. Fazit: Angucken!

Nachtrag vom 27. Februar: Fünf Oscars sind es dann geworden für The Artist: Der Preis für den besten Film, die beste Regie, den besten Hauptdarsteller (Jean Dujardin), das beste Kostümdesign und die beste Musik gingen an den Film. Leider ging Wim Wender mit seiner sehenswerten Tanzdokumentation "Pina" leer aus.

Autor:

Lokalkompass Dortmund-City aus Dortmund-City

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