Nachwuchsprobleme bei der Polizei
Eine hausgemachte Nachwuchsmisere bei der Polizei?

Die Polizei findet nicht mehr genug Bewerber

Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung macht in ihrer Ausgabe vom 7. Februar 2023 unter dem Titel „Polizei fahndet nach Nachwuchs“ auf ein schwerwiegendes Nachwuchsproblem bei der nordrhein-westfälischen Polizei aufmerksam, das eine Minderung der Einsatzfähigkeit der Polizei zur Folge hat. Hierzu möchte ich aus der Sicht eines Polizeibeamten, der seit vielen Jahren in die Lehre an der nordrhein-westfälischen Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung eingebunden ist, Stellung nehmen. Ich beschreibe hier meine eigene Meinung und nicht die der Landesregierung, der Hochschule oder der Polizei.

Das beschriebene Problem, dass die Polizei nicht mehr genug geeignete Bewerber findet, besteht zweifellos. Nachdem es in lange vergangenen Zeiten mindestens zweimal Einstellungserfordernisse von deutlich über 2.000 neuen Polizeibeamten pro Jahr gegeben hat (1965 mehr als 2.500 und 1975 etwas über 2.300), dümpelten die Einstellungszahlen neuer Polizisten über viele Jahre hinweg in Bereichen, die deutlich unter 2.000 Planstellen, in manchen Jahren sogar nur unter 1.000 lagen. Diese Verhältnisse haben sich mit dem massiven Ausscheiden der geburtenstarken 1950er und 1960er Jahrgänge mittlerweile stark geändert. Dass die vielen Tausend Beamtinnen und Beamten dieser Alterskohorte verloren gehen würden, war für jeden, der auch nur zählen kann, absehbar, jedoch wurde nicht früh genug gegengesteuert. So lag die Zahl der Neueinstellungen etwa 2010 noch bei 1.100 jungen Beamten, die in die Polizei eintreten konnten. Erst danach wurde – eher zögerlich – die Zahl der angebotenen Studienplätze für den Polizeivollzugsdienst heraufgezogen. 2014 wurden immerhin schon rund 1.500 „Neue“ eingestellt und bis 2022 ist die Zahl der angebotenen Aus-bildungsplätze sukzessive auf 3.000 heraufgezogen worden. Das Jahr 2022 ist allerdings eine Wendemarke im Einstellungsgeschehen, da es nun erstmals nicht mehr gelungen ist, die angestrebte Zahl von Polizisten einzustellen. Rund 300 Studienplätze werden – voraussichtlich über drei Jahre hinweg – leer vom Hochschulsystem mitgeschleppt. Diese Studienplätze ohne Menschen verwandeln sich in einigen Jahren in leere Plätze in Streifenwagen und Kommissariaten.

Die Polizei verliert zu viele Auszubildende

Das Problem einer unzureichenden Zahl von Neueinstellungen ist die eine Seite der Medaille. Die große Zahl der Auszubildenden, die während des Studiums vorzeitig ausscheiden und damit ebenfalls den Polizeibehörden in einigen Jahren fehlen werden, die andere Seite. Das Volumen dieser Personalverluste hat sich innerhalb weniger Jahre hochgeschaukelt. Lagen die Zahlen der ausscheidenden Studierenden zu Beginn der 2000er Jahre noch im einstelligen Prozentbereich, so gehen mittlerweile während des Studiums etwa 20 Prozent, also jeder fünfte Auszubildende, verloren. In absoluten Zahlen ausgedrückt sind das bei den jetzigen Einstellungszahlen pro Jahr mehr als 500 junge Frauen und Männer, die ein, zwei oder drei Jahre später nicht in den Polizeibehörden ankommen werden, obwohl sie dort dringend gebraucht werden.

Personenbezogene Ursachen des Auszubildendenschwundes

Dieses halbe Tausend an Personalverlusten hat unterschiedliche Ursachen. So verlässt eine eher kleine Zahl Studierender die Hochschule aus freien Stücken, da sie während des theoretischen Studiums und der fachpraktischen Zeit feststellen, dass sie den falschen Beruf ge-wählt haben. Zu vermuten ist, dass ein noch kleinerer Teil die Tatsache, dass es bei der Polizei während des Studiums ein gutes Monatsgehalt von über 1.300 Euro netto gibt, ausnutzt, indem sie eigentlich auf einen Studienplatz in einem anderen Studiengang warten und das Polizeistudium ohne großes Engagement als gutdotierte Überbrückung bis zum Eintritt ins Medizin- oder Ingenieursstudium betreiben. Die ganz überwiegende Zahl der Abgänger fällt aber schlicht und einfach bei Prüfungen durch und muss unfreiwillig gehen. Auch hier muss man bei den Szenarien, die zu einer Entlassung aus dem Polizeidienst führen, noch einmal differenzieren. Ein Teil der Betroffenen ist sicherlich mit den hohen Anforderungen des Studiums überfordert oder hat „den Schuss nicht gehört“ und nicht verstanden, dass man mit dem Lernen für eine vierteilige Klausurenserie, die innerhalb weniger Tage geschrieben werden muss, nicht erst eine Woche vor den Arbeiten mit dem Lernen anfangen kann. Die intellektuell Überforderten zu entlassen, ist sicherlich der einzig richtige Weg, da sie später für die Polizei im täglichen Dienst zu einer unzumutbaren Belastung werden könnten. Bei der Kategorie „Schlafmützen“ wäre aber eventuell noch ein Gegensteuern in Form von kleinen Zwischenprüfungen denkbar, mit denen den Betroffenen frühzeitig ihr mangelhafter Wissensstand vor Augen geführt würde.

Strukturelle Ursachen

Neben diesen Problemen gibt es aber auch strukturelle Defizite, die angegangen werden müssten und die zu einem hohen Ausfall an Studierenden/zukünftigen Polizisten führen. In den 1970er und noch weit bis in die 2000er Jahre hinein, wurden die Polizeistudierenden nicht wie heute in einem Bachelorstudiengang, sondern in einem Diplomstudiengang ausgebildet, nach dessen Abschluss man akademisch Diplom-Verwaltungswirt und beamtenrechtlich Kommissar wurde. Dieser Diplomstudiengang erlaubte bis zum Examen ein Mangelfach, in dem man eine Schulnote „Fünf“ haben durfte. Diese Fünf musste durch mindestens ein anderes, besseres Fach ausgeglichen werden, so dass man über alle Fächer hinweg mindestens ein Ergebnis von 4,0 brauchte, um das Studium zu bestehen. Zweifellos sind heute auf unseren Straßen und in den Polizeidienststellen gute Polizeibeamte tätig, die mit dieser „Fünf“ den Sprung in den aktiven Polizeidienst geschafft haben und heute mit gutem Ergebnis Mordkommissionen, Einsatzhundertschaften und Dienstgruppen leiten. Würde wir all jene aus dem Personalbestand herausrechnen, die vielleicht im Fach Staatsrecht in der Ausbildung schwach waren, aber alle anderen Fächer gut bestanden haben, so würden sicher noch einmal zahlreiche Polizisten fehlen. Da viele der heutigen Studierenden nicht in mehreren, sondern in nur einem Fach durchfallen, plädiere ich dafür, zu den damaligen Standards zurückzukehren. Ein zweiter Aspekt: Wenn in Kursen, also den „Schulklassen“ an der Hochschule, bei einzelnen Klausuren zum Teil mehr als die Hälfte der Studierenden durchfällt, so muss – wenn wir ehrlich mit unserem Personalverlustproblem umgehen – auch die Frage gestellt werden dürfen, ob die Ausfälle alleine auf ein Unvermögen der Studierenden zurückzuführen sind (sitzen in einem Kurs lauter Dummköpfe mit Abitur?) oder ob nicht bisweilen ein kleines bisschen mehr Milde bei der Benotung sinnvoll wäre.

Die Folgen zu großer Verluste an Auszubildenden

Ich weiß, dass ich mit diesem letzten Satz einen Aufschrei bei denen auslösen werde, die immer wieder betonen, dass wir keine Abstriche bei der Qualität der Polizeistudierenden machen dürfen. Innenminister Herbert Reul wird in dem Zeitungsartikel, auf den ich mich hier beziehe, aus einer Landtagssitzung mit „Ich lasse lieber Ausbildungsplätze frei als Abstriche bei der Qualität zu haben“ zitiert. Diese Bemerkung ist mir im Hochschulorbit oft genug begegnet, sie verschließt aber die Augen vor der Realität. Hier möchte ich auch dem Minister widersprechen, den ich als Amtsinhaber für den größten Glücksfall der letzten 20 Jahre halte, dessen Meinung ich in diesem Punkt aber nicht teilen kann. Auf einem durch geburtenschwache Jahrgänge dünn besetzten, von vielen attraktiven Arbeitgebern umkämpften Bewerbermarkt nach immer mehr Personal greifen zu wollen, bringt zwangsläufig mit sich, dass man auch auf schwächere Kandidaten zurückgreifen muss, wenn man seine Stellen besetzen möchte. Ich möchte das mit einer kleinen Metapher verdeutlichen. Wenn man eine vierköpfige Familie von einem Apfelbaum ernähren will, dann kann man sich sicherlich die schönsten, größten und makellosesten Äpfel vom Baum nehmen, die er bietet. Wächst die Familie auf zehn Personen an, dann müssen wahrscheinlich schließlich auch etwas kleinere, schrumpelige oder fleckige Äpfel gepflückt werden, um die Familie satt zu bekommen. Bleibt man bei dem Mantra „Wir nehmen aber nur die schönsten Äpfel“, dann wird die Familie hungern müssen und zunehmend schwächer werden.

Die Familie ist in unserem Fall die Polizei und die Äpfel die Bewerber bzw. Auszubildenden. Wenn wir auf dem Standpunkt verharren, dass wir nur die Besten nehmen sollten, dann nehmen wir in Kauf, dass wir die Reihen der Polizei nicht mehr geschlossen bekommen. Wer hier meint, dass das dann eben so sei und die Polizei dann halt unterbesetzt sei, verschweigt aber die Folgen, die die Unterbesetzung für die Bevölkerung hat, die zu Recht umfassenden polizeilichen Schutz erwartet, da sie dem Staat das Gewaltmonopol überlassen hat und das Recht nicht in die eigenen Hände nehmen darf. Eine unterbesetzte Polizei ist nichts Abstraktes, sondern lässt sich in Szenarien darstellen. Eine unterbesetzte Polizei kann bedeuten, dass ich nachts im Parterre meines Hauses einen Einbrecher höre und im Obergeschoss aus dem Schlafzimmer voller Angst und Verzweiflung die Polizei anrufe. Der Streifenwagen kommt aber nicht oder erst viel zu spät, da nicht genug Polizei da ist. Möglicherweise hätte ich mich in Lebensgefahr in dieser Situation über die Hilfe zweier Polizisten gefreut und sie nicht weggeschickt, weil sie 20 Jahre zuvor im Staatsrecht eine Fünf hatten. Eine unterbesetzte Polizei kann auch bedeuten, dass für die Suche nach einem vermissten Dreijährigen nicht sofort eine komplette Hundertschaft, sondern nur zwei Züge ausrücken können, da für den dritten Zug kein Personal zur Verfügung steht. Das Kind wird vielleicht aus Personalmangel nicht rechtzeitig gefunden. Eine unterbesetzte Polizei bedeutet aber auch, dass der Schläger, der einen Familienvater krankenhausreif geschlagen hat, nie zur Rechenschaft gezogen wird oder Clan-Kriminelle, Islamisten, Rocker und Drogenhändler ungestört ihrem Treiben nachgehen können, weil in den Kriminalkommissariaten Ermittlerstellen unbesetzt geblieben sind, da zu viele Auszubildende nie das Ausbildungsende erreicht haben. „Ich lasse lieber Ausbildungsplätze frei“ heißt übersetzt „Ich nehme lieber einen schlechteren Schutz der Bürger in Kauf“. Kann man das wollen?

Polizisten mit Mindergröße als Lösung des Problems?

Und noch einen Aspekt aus dem Artikel möchte ich kurz ansprechen. Wenn es heißt, dass die Untergrenze der Körpergröße bei Bewerbern von 163 cm „nicht mehr unverhandelbar sein darf“, dann möchte ich dazu feststellen, dass von einem bestimmten Punkt an die Wehrhaftigkeit eines Polizeibeamten nicht mehr gegeben ist. Als ich 1980 mit einer Körpergröße von 171 cm in die Bochumer Bereitschaftspolizei eingestellt wurde, gehört ich schon zu den Kleinsten unter den Auszubildenden. Schon mit dieser Größe kann man, wenn man nicht gerade Schwarzgutträger ist, an seine Grenzen stoßen, sofern man im Einsatz auf einen muskulösen Zweimeter-Bären trifft. Die Vorstellung, dass Polizeibeamte mit Mindermaßen unter 163 cm Größe eingestellt werden, löst bei mir die Vorstellung aus, dass bald bei Demonstrationen oder Clan-Randale in Ruhrgebietsstädten Kleinstpolizisten als Wurfbälle zwischen den Delinquenten hin und her geworfen werden. Die Aufhebung der Mindestkörpergröße kann keine ernsthafte Lösung für den Personalschwund in der Polizei sein. Solange gut benotete Auszubildende das Studium abbrechen müssen, weil sie beim Tieftauchen keinen Stein aus vier Metern Tiefe bergen können, wie es die Prüfungsordnung verlangt, oder engagierte und arbeitswillige Studierende mit guten Gesamtnotenschnitten entlassen werden, weil sie in einem Fach schwach waren, sollten wir solche Verzweiflungswege wie die Einstellung von Polizeibeamten in Kindergröße nicht gehen. Vielleicht sollten wir uns doch ein kleines Stück von unserer Qualitätserwartung in Zeiten eines zahlenmäßig schwachen Bewerbermarktes trennen, ein seit Jahrzehnten immer vollgestopfteres Hochschulcurriculum, das irgendwann die Grenze der Studierbarkeit überschreiten wird, kritisch durchschauen und entkrauten und vielleicht erlauben wir uns wieder eine (einzige) „Examens-Fünf“, die sogar heute noch im rechtswissenschaftlichen Studium möglich ist, in dem ja immerhin mit Rechtsanwälten, Staatsanwälten und Richtern unser akademischer Hochadel ausgebildet wird. Müssen Polizisten klüger sein als der Arzt oder der Richter?

Dr. iur. Frank Kawelovski, Mülheim/Ruhr
kawelovski@online.de

Autor:

Dr. Frank Kawelovski aus Mülheim an der Ruhr

Webseite von Dr. Frank Kawelovski
following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Eine/r folgt diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.