Geschichten aus der Schulzeit
Die Lateinarbeit

Foto: congerdesign // Pixabay

Es ist schon 40 Jahre her, ich war 15 Jahre alt. In der Schule stand eine Latein-Klassenarbeit an. Aber anstatt auf's Auswendiglernen des verlangten Lehrstoffes verlegte ich mich auf das Erstellen eines großen Pfuschzettels in Form des Löschblattes meines DIN-A4-Klassenarbeitsheftes. Damit gab ich mir große Mühe und stellte akribisch Deklinationstabellen und Vokabellisten auf diesem Löschblatt zusammen. Dieses legte ich hinten in mein Klassenarbeitsheft ein und ging so ausgerüstet und abgesichert am nächsten Tag zur Schule. Während der Klassenarbeit benötigte ich den Pfuschzettel eigentlich gar nicht mehr so recht, da der Lehrstoff durch das intensive Erstellen desselben nun doch noch auf diesem Umweg Eingang in mein Gedächtnis gefunden hatte. Vermutlich war das der Grund, weswegen ich gar nicht mehr an den Pfuschzettel dachte. Ich beendete glücklich meine Klassenarbeit und gab das Heft ab. Auf dem Schulhof in der großen Pause überkam es mich auf einmal siedendheiß, als mir das Löschblatt wieder einfiel, welches ich brav mit dem Klassenarbeitsheft abgegeben hatte. Nun würde alles umsonst gewesen sein, ich war aufgeflogen durch meine eigene Dummheit und bloßgestellt. Warum nur hatte ich das Blatt nicht aus dem Heft herausgenommen? Voller Angst und Grauen erwartete ich nun den Tag, an dem die Klassenarbeit zurückgegeben würde.

Als die nächste Lateinstunde gekommen war, saß ich schreckensstarr auf meinem Platz. Auf dem Pult unseres Lateinlehrers, der auch zugleich unser Klassenlehrer und der Direktor der Schule war, lag unheilverheißend der Stapel der Klassenarbeitshefte. Voller Angst erwartete ich die Lawine, die nun unvermeidlich auf mich zurollen würde. Unser Lehrer nahm die Hefte und begann, sie auszuteilen. Auch ich bekam mein Heft ausgehändigt, ganz normal und kommentarlos. Verwundert öffnete ich es zögernd. Ich hatte eine „drei“ und das Löschblatt war weg.

Niemals hat unser Klassenlehrer mir gegenüber eine Andeutung gemacht, und auch das Löschblatt tauchte nie wieder auf. Leider konnte ich mich nie bei ihm bedanken, da ich das heikle Thema ja schlecht ansprechen konnte. Und auch späterhin ergab sich keine Gelegenheit mehr. Das bedauere ich heute sehr. Aber ich werde meinen Lateinlehrer immer in guter Erinnerung behalten und mit dem heutigen Abstand immer wieder gerne an diese kleine Anekdote zurückdenken, die von Menschlichkeit in der Schule erzählt.

Autor:

Anke Rüdiger aus Duisburg

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