Gendefekt mit zwei Gesichtern
Helios Klinikum ist Alpha-1-Kinderzentrum

Illustration eines Proteins | Foto: Helios-Klinikum
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Als der kleine Mats das Licht der Welt erblickt, ist alles so wie es sein soll – seine Farbe rosig, die Organe gesund, sein Schrei beeindruckend kräftig. Und wie bei vielen Neugeborenen verfärbt sich seine Haut in den Tagen nach der Geburt leicht gelblich – ein Zeichen für überschüssiges Bilirubin, da die Leber diesen Farbstoff aus der großen Menge an roten Blutkörperchen, die nach der Geburt zerfallen, nur langsam abbauen kann.
Für Kinderärzte ist dieser physiologische „Nachholbedarf“ des kleinen Körpers kein Grund zur Sorge: Meist bildet sich die Gelbsucht von selbst zurück. Doch bei Mats verschwindet die Färbung auch nach mehreren Tagen nicht. Als der Kinderarzt der Familie bei einer Blutuntersuchung neben der Erhöhung des Bilirubins zusätzlich Veränderungen mehrerer anderer Leberwerte feststellt, ist er besorgt. Er denkt zunächst an eine Infektion als Krankheitsursache, findet aber keine weiteren Hinweise dafür. Schließlich rät er, das Kind rasch in einer Kinderklinik vorzustellen. Dort  zeigen die Aufnahmeuntersuchungen noch weitere beunruhigende Auffälligkeiten, denn auch Mats‘ Blutgerinnungswerte sind gestört. Laboruntersuchungen zeigen, dass Mats' Leber einen wichtigen Bluteiweißstoff, das Alpha-1-Antitrypsin, nur in einer fehlerhaften Variante produziert, die das Organ selbst schädigt. Ursache ist ein Gendefekt, auch α1-Antitrypsin-Mangel genannt, der bei Mats auf beiden Kopien der Erbinformation vorhanden ist und deshalb so schwerwiegend ausfällt. Der kleine Junge ist damit einer von 20 000 Menschen in Deutschland, die von dieser seltenen genetischen Variante betroffen sind. Eine entsprechende Veränderung in nur einer der beiden Kopien, die ein Mensch von jeder Erbinformation hat, kommt etwa bei jedem fünfzigsten Europäer vor. Dieser „heterozygote Zustand“ alleine löst aber in aller Regel noch keine Krankheit aus.
Für betroffene Familien ist es oft schwierig, einen Arzt zu finden, der sich mit diesem Phänomen überhaupt auskennt. Und auch die Verläufe sind vollkommen unterschiedlich, denn bei manchen zeigen sich wie bei Mats schon im Kindesalter Symptome – dann fast ausschließlich an der Leber – und bei anderen beginnt die Erkrankung erst um das 40. Lebensjahr herum oder sogar noch später, dann befällt sie meistens die Lunge. „Ein Gendefekt mit zwei Gesichtern, der oftmals übersehen wird“, weiß auch Dr. Rüdiger Kardorff, Sektionsleiter der Kinder-Gastroenterologie am Helios Klinikum Duisburg und einer der wenigen bundesweiten Spezialisten auf dem Gebiet. Um genauer zu verstehen, woran das liegt, muss man wissen, was die eigentliche Aufgabe des α1-Antitrypsin im Körper ist: „Es ist ein Akute-Phase-Protein, das die Leber herstellt und an das Blut abgibt. Im Grunde schützt es Körpergewebe vor Enzymen, die im Rahmen von Entzündungsprozessen gebildet werden“, erklärt der 59-jährige Mediziner. „Fällt diese Hemmung weg oder wird eingeschränkt, haben die Enzyme freie Bahn und greifen organisches Gewebe an. Das betrifft vor allem die Lunge, wodurch es zu schweren Abbauprozessen und dauerhaften Funktionseinschränkungen kommen kann.“ Ein solches „Lungenemphysem“ wird manchmal zunächst mit der bei Erwachsenen sehr viel häufigeren chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) verwechselt, verläuft aber erheblich aggressiver.
Bei rechtzeitiger Diagnose kann der Patient durch eine gesunde Lebensführung aber viel Lebensqualität und -zeit gewinnen. Darin sieht auch der Pädiater Kardorff seine Hauptaufgabe: „Manche Kinder benötigen rasch eine umfassende Behandlung, das kann sogar eine Transplantation der Leber einschließen. Doch in den meisten Fällen stehe ich den betroffenen Familien – auch wenn das Kind weniger schwer erkrankt ist – über viele Jahre beratend zur Seite, damit sie lernen, mit dem Gendefekt bestmöglich zu leben. Denn gerade wenn die Diagnose frisch gestellt ist, gibt es meist sehr viel Angst, Unsicherheit und Gesprächsbedarf.“ Am Helios Klinikum Duisburg arbeitet sein Team deshalb auch mit den Kollegen aus anderen Abteilungen, etwa der Kinder- und Erwachsenen-Pneumologie sowie der internistischen Gastroenterologie eng zusammen. So können betroffene Patienten über lange Zeit von der Kindheit bis ins Seniorenalter betreut werden. Neben diesem wichtigen Punkt erfüllt die Abteilung für die Therapie des Gendefekts zudem die hohe medizinische Qualität sowie die notwendigen technischen Voraussetzungen, etwa beim Ultraschall und wurde deshalb nun von der Deutschen Atemwegsliga e.V. zum Alpha-1-Kindercenter ernannt.
Heilen lässt sich der Gendefekt nicht, aber begleiten und wirksam beeinflussen. Auch der heute fünfjährige Mats und seine Familie kommen mittlerweile gut mit der Erkrankung zurecht, doch Einschränkungen bleiben. Neben einer gesunden Lebensführung muss er auf Lunge und Leber besonders Acht geben und auch seinen Beruf später entsprechend auswählen. Viele Medikamente kommen für ihn aufgrund ihrer Wirkung auf die Leber nicht in Betracht und Atemwegsinfektionen sollten am besten vermieden oder zumindest frühzeitig behandelt werden.

Autor:

Karin Dubbert aus Oberhausen

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