Glosse zum Bauskandal in Haltern-Sythen
Empörungswelle in Sythen – doch „Halterner Landrecht“ hat Tradition seit Jahrzehnten

HALTERN. Derzeit ist in Haltern die Empörungswelle groß über die fragwürdigen bau- und planungsrechtlichen Vorgehensweisen der Stadtverwaltung: Die rechtswidrige Änderungsgenehmigung für das kommerzielle Seniorenwohnprojekt im Sythener Neubaugebiet Elterbreischlag ist heftig umstritten. Dass jedoch die nachträgliche Legalisierung von rechtlich problematischen Bau- und Planungsprojekten in Haltern seit Jahrzehnten Tradition hat, über Generationen von Baudezernenten hinweg (und teilweise mit Duldung durch die Kommunalpolitik), ist in Vergessenheit geraten. Viele ältere Beobachter der Historie prägten schon damals den spöttischen Begriff vom „Halterner Landrecht“.

Wildwuchs bei Wochenendhausgebieten lange geduldet

Hier zur Erinnerung: Sämtliche Freizeitanlagen und Wochenendhausgebiete in Haltern sind erst im Nachhinein planungsrechtlich legalisiert worden über nachträgliche Bebauungspläne für Sondergebiete, nach langen Auseinandersetzungen mit den Aufsichtsbehörden. Beispiele: Der anfängliche Wildwuchs von Wochenendhäusern im Bereich „Hohe Niemen“ entlang der Stever sowie die Siedlung Overrath in Sythen und Stockwiese, ob mit oder ohne Baugenehmigung, sind als rechtswidrige Zustände jahrzehntelang geduldet worden im Rahmen des Ermessens der städtischen Baubehörde, sehr zum Ärger der Landschafts- und Aufsichtsbehörden.

Von der rechtlichen Möglichkeit einzuschreiten, machte die Halterner Baubehörde keinen Gebrauch, obwohl öffentliche Interessen den privaten Interessen entgegen standen. Mit der „stillschweigenden oder aktiven Duldung rechtswidriger Zustände aus Verhältnismäßigkeitsgründen“ erhielten wohl die Bauherren somit Vertrauensschutz und Bestandsschutz. Schließlich hatten dort auch prominente Leute ihre "Datscha", wie z.B. der damalige Bürgermeister von Oer-Erkenschwick...

(Fachjuristen nennen das „Duldungspraxis durch gleichmäßige Verwaltungsübung“, oder sie streiten oft darüber, ob es sich um „Aushöhlung der Baugenehmigung“ oder „Entwertung bauaufsichtlicher Prüfverfahren“ handelt und damit um „Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes“ bei der vorliegenden „Duldung materiell rechtswidriger Zustände“. Auch gibt es den Rechtsbegriff der „Bürgermeistergenehmigung“. Die Frage, ob dabei Befugnisse von Amtsträgern überschritten oder die „Stellung missbraucht“ wurde, ob hier also ein Amtsdelikt oder Amtswillkür vorliegt, ist wegen der Verjährung müßig, denn dann käme man unter Umständen in Kollision mit dem Strafrecht im Falle von „Rechtsbeugung“).

Die Härte des Gesetzes nur gegen Dauercamper?

Auch bei den Bewohnern des Wohnkomplexes am Seestern wurde jahrzehntelang das Dauerwohnen geduldet, obwohl nur als Zweitwohnsitz für den temporären Aufenthalt genehmigt. Hingegen hat die Stadt jüngst den Campern auf den Campingplätzen neben den Wochenendhausgebieten mitgeteilt, dass ihr Daueraufenthalt mit aller Strenge des Gesetzes untersagt wird. Wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Derweil entstehen direkt nebenan im nunmehr legalisierten Wochenendhausgebiet an der Stever mehrgeschossige Premiumvillen der Extraklasse mit städtischer Baugenehmigung, die kaum noch dem Charakter und der Funktion von bloßen Wochenendhäusern entsprechen, sondern als repräsentativer Dauerwohnsitz dienen. Weitere umstrittene Wochenendhaus-Pläne direkt am Stausee im Waldgebiet hat die Stadt nach Bürgerprotesten vorerst ad acta gelegt.

Freizeitanlagen erst nachträglich planungsrechtlich abgesichert

Aber auch die heute bei Touristen sehr beliebten großen kommerziellen Freizeitanlagen in Haltern, die sukzessive in der freien Landschaft gewachsen sind und stetig erweitert wurden - ob Ketteler Hof, ob Prickings Hof oder „Jupp unner de böcken“ - sind in ihren damaligen Anfängen ohne planungsrechtliche Grundlage entstanden und erst viel später im Nachhinein über Bebauungspläne als „Sondergebiet Freizeit und Erholung“ rechtlich abgesichert worden, nachdem auch hier die Landschafts- und Aufsichtsbehörden intervenierten. Bis dahin stand die Nutzung den gültigen regional- und landesplanerischen Planvorgaben, dem Landschaftsschutz und sogar dem damaligen Flächennutzungsplan größtenteils entgegen.

Vorrang kommerzieller Interessen vor öffentlichen Interessen?

Ähnlich läuft es aktuell wieder am Silbersee II. Auch dort wurde der Badebetrieb erst in 2005 legalisiert und 2009 trotz naturschutzrechtlicher Bedenken durch einen Bebauungsplan (für Gastronomiebetrieb und andere Infrastruktur) planungsrechtlich abgesichert. Mit dem neuen Bebauungsplan Nr. 84, der gerade aufgestellt wird, sollen jetzt bauliche Erweiterungen und 1000 zusätzliche Autostellplätze für Großveranstaltungen bis zu 15.000 Besuchern ermöglicht werden, direkt neben einem hochrangigen Naturschutzgebiet und gegen den höherrangigen Landesentwicklungs- und Regionalplan, der hier landschaftsorientiere Erholung mit Vermeidung von übermäßiger Erschließung und Möblierung vorschreibt. Das hält die Stadt nicht davon ab, die Interessen der privaten Investoren planungsrechtlich abzusichern, obwohl öffentliche Belange den kommerziellen Belangen entgegenstehen, gerade in dem touristisch und von Verkehrslärm vorbelasteten Stadtteil Sythen.

"Siedlung Kunterbunt" - Es geht auch ohne Bebauungsplan?

Einen erforderlichen Bebauungsplan umging die Stadt vor Jahrzehnten für die inzwischen 90 Wohnhäuser der Neubausiedlung auf dem einstmals grünen Höhenzug entlang Napolensweg/Hochweg/Talstraße in Lavesum. Man erklärte den im FNP als Baugebiet ausgewiesenen ehemaligen Grünzug (mit einigen wenigen alten Bestandshäusern gemäß historischem Luftbild) kurzerhand zum „unverplanten Innenbereich“ gemäß § 34 Baugesetzbuch, obwohl dafür ein „im Zusammenhang bereits bebauter Ortsteil“ die rechtliche Voraussetzung wäre. Somit konnte man über Einzelbaugenehmigungen eine städtebaulich ungeordnete Siedlung mit "individueller Baufreiheit" wachsen lassen, die Spötter als „Siedlung Kunterbunt“ bezeichnen. Ein Bebauungsplan ist aber von Gesetzes wegen immer dann erforderlich, sobald und soweit es die städtebauliche Ordnung erfordert. Aber wahrscheinlich ist hier alles in Ordnung?

Bauen im geschützten Außenbereich – kein Problem?

Es gäbe noch eine Reihe weiterer Beispiele. Wer mit offenen Augen durch die Halterner Landschaft wandert oder radelt, hat sich sicherlich schon über eine Vielzahl älterer und jüngerer Wohnhäuser im Außenbereich gewundert, obwohl doch eigentlich Baugenehmigungen im landschaftlichen Außenbereich nur für (juristisch so genannte) „privilegierte Vorhaben“ z.B. im landwirtschaftlichen Zusammenhang erteilt werden können. Die hier im Einzelfall angewendeten Ausnahmeregelungen und Genehmigungsgrundlagen sind der Öffentlichkeit jedoch nicht zugänglich. Aber ganz sicher ist alles mit rechten Dingen zugegangen, denn vor dem Gesetz sind alle gleich, wer mag daran zweifeln?

Einsehen können die Bürgerinnen und Bürger hingegen den rechtsgültigen Flächennutzungsplan der Stadt. Der erklärt die Splittersiedlungen in den ländlich geprägten Außenbereichen der Stadt für einen "städtebaulichen Missstand" und als "Beeinträchtigung öffentlicher Belange". Wörtlich heißt es: Die vorhandene Bebauung hat Bestandsschutz, doch „eine weitere Ausdehnung dieser Splittersiedlungen soll verhindert werden“. Im Einzelnen sind die 16 Splittersiedlungen im Stadtgebiet aufgezählt, von Lünzum über Hennewig, Holtwick und Uphusen bis Eppendorf und Lochtrup.

Aufsichtsbehörden prüfen seit 37 Monaten ohne Ergebnis

Das hat die Bauverwaltung nicht davon abgehalten, jüngst in zwei Außenbereichssatzungen für Lochtrup mit insg. 10 ha Umfang eine Ausdehnung der Bebauung um das zwei- bis dreifache des Bestandes in landschaftlich wertvollen oder geschützten Bereichen zu ermöglichen – entgegen dem eigenen Flächennutzungsplan und dem Landschaftplan, trotz massiver Bedenken der Aufsichtsbehörde, der Landschaftschützer und von Bürgern, allerdings mit zustimmendem Ratsbeschluss. (Bei der Abwägung hat die Bauverwaltung dem zuständigen Ratsausschuss allerdings manche Einwände vorenthalten oder erst nachträglich vorgelegt, wofür sich die damalige Baudezernentin laut Presse dann entschuldigt hatte. Aber auch falsche Informationen waren dabei und mussten korrigiert werden).

Und das, obwohl der Gesetzgeber das Planungsinstrument der Außenbereichssatzungen ausschließlich zur Eingrenzung und nicht zur Ausdehnung der Splittersiedlungen geschaffen hat. Auch hier prüfen gerade die Aufsichtsbehörden auf Veranlassung von Bürgern die Rechtmäßigkeit. Anders als im Sythener Fall schaffen sie das aber nicht in 13 Monaten, sondern die Prüfung läuft seit nunmehr schon 37 Monaten immer noch ohne Ergebnis. Einzelbaugenehmigungen wurden aber bereits von der Bauverwaltung dessen ungeachtet erteilt. (Vielleicht ein politisches heißes Eisen, falls die Ratsbeschlüsse aufgehoben werden müssen…).

Gesetzliche Planungshierarchie einfach abschaffen oder ignorieren?

Doch wie sagte Ex-Bürgermeister Bodo Klimpel im Januar 2019 in einem Interview mit der Halterner Zeitung: „Wir brauchen keine Vorgaben aus Essen von der Regionalplanungsbehörde. Was für Haltern bedarfsgerecht ist, wissen wir in Verwaltung und Politik selber.“ Und der Lavesumer Landespolitiker und ehemalige Vorsitzende des RVR-Regionalparlaments, Josef Hovenjürgen,  sekundierte am 13.08. 2020 in der Halterner Zeitung: „Ich finde, grundsätzlich sollten die Städte selber über Ausweisungen von Flächen entscheiden.“ Basta - hier gilt das "Halterner Landrecht" und nicht die lästige gesetzliche Planungshierarchie? Mit gleichem Fug und Recht könnten die einzelnen Bauherren daraufhin sagen: Wir wissen selber  am besten, was auf unserem Grundstück sinnvoll ist, dazu bedarf es keiner Vorschriften und Pläne aus dem Rathaus?

Gleiches Recht für alle als Schutz vor Anarchie…

In einem Leserbrief zum Sythener Skandalfall forderte eine Bürgerin „gleiches Recht für alle“ (…) „In Haltern müssen Bürger jeden Holzschuppen abreißen, der nicht der vorgegebenen Bauordnung entspricht.“ Ein pensionierter Verfassungsrichter formulierte es einmal so: „Wenn das Recht nicht für alle gilt, dann gilt es für niemanden, dann haben wir Anarchie“. (Wie Anarchie im Bausektor aussehen kann, haben in der Vergangenheit Skandalfälle in Griechenland oder Osteuropa gezeigt, oder nicht eingehaltene Baugenehmigungen in Erdbebengebieten).
In Sythen wurde immerhin fast ein „politisches Erdbeben“ ausgelöst – es kann also in Zukunft in Haltern nur besser werden, und die Vergangenheit kann ruhen.

Wilhelm Neurohr

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

Webseite von Wilhelm Neurohr
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