Stadtrauminszenierung
Hörspiel "Nischen" ab sofort online

Foto: Lokalkompass

NISCHEN. Eine hörbare Stadtrauminszenierung hatte am 23. April 2020 und damit mitten im ersten Lockdown Premiere. Zunächst als Audio-Walk durch das Wallzentrum geplant, mussten Regieteam und Ensemble umschalten und das analoge Stück über gesellschaftliche Nischen und Schlupfwinkel zu einem Hörspiel umgestalten.
„Wir sind froh, dass Meret Kiderlen und Kim Willems ( w&k) diese Flexibilität und Kreativität mitgebracht haben.“, so Viola Köster, Dramaturgin am Schlosstheater. „Je länger die Pandemie nun andauert, desto relevanter scheint das Thema der gesellschaftlichen Nischen zu werden. Von daher freuen wir uns, das Hörspiel ab sofort und bis zum Ende der Spielzeit wiederaufnehmen und es allen
Interessierten online zur Verfügung stellen zu können.“
Vor der Wiederaufnahme haben Larissa Bischoff und Viola Köster, beide
Dramaturginnen am Schlosstheater, ein Interview mit dem Regieteam geführt. 

STM: Letzten März, also ziemlich genau vor einem Jahr, steckte eure Produktion "NISCHEN" mitten in den Proben, als der erste Lockdown kam. So wurde die als Audio-Walk durch das Wallzentrum geplante Inszenierung kurzerhand zu einem Hörspiel. Wie habt ihr diesen Prozess erlebt? Was waren besondere Herausforderungen?

w&k: Wir haben mehrere Monate im Voraus zu Nischen in Moers recherchiert und am Konzept, einem Live-Audio-Walk durch das Wallzentrum, gearbeitet. Dann kam die Pandemie. Da die Live Begegnung zwischen Publikum und Spieler*innen nun nicht mehr möglich war, haben wir beratschlagt und das Hörspiel zu unserem neuen Medium auserkoren. Das hat alles verändert. Stellt euch vor, ihr streift mit Unbekannten durch die Gänge des Wallzentrums, über euch geht plötzlich ein Fenster auf und es winkt euch ein Bewohner zu, der kurz darauf im Innenhof auftaucht, um mit euch zu tanzen, während er euch von seiner Nische, einer Art Mehrgenerationenhaus, erzählt. Oder stellt euch vor, ihr geht durch das Wallzentrum, werdet nach und nach zu einer eingeschworenen Gruppe und Teil einer ganz speziellen Freiheitserzählung, um dann immer mehr am eigenen Körper
zu erfahren, dass diese Eingeschworenheit unheimlich wird. Wie soll man diese Begegnungen und körperlichen Erfahrungen nun in das Medium Hörspiel übersetzen? Das ist nicht so einfach. Man kann für dieses Medium ganz andere spannende Formen des Zusammenspiels zwischen Hörern  und Akteuren finden, aber das erfordert eben eine ganz andere Konzeption. Und so ist das Hörspiel eine andere Reise geworden als die ursprünglich geplante. Auch für die Spieler war dieser Bruch sehr abrupt. Wir hatten gerade zusammen einen Prozess angestoßen, den wir sehr gerne zusammen weitergegangen wären. Von ursprünglich drei geplanten Guides, die das Publikum durch das Wallzentrum geführt und dabei immer mehr um ihre Finger gewickelt hätten, ist im Hörspiel nur noch eine Rolle, die der Hauptsprecherin, geblieben. Wir hoffen , dass das Hörspiel durch die spannenden Stimmen sowohl der Menschen aus Moers als auch der Spieler des STM Zuhörenden wenn auch nicht körperlich und live, so doch über die Ohren angeht und bewegt.

STM: Welche besonderen Nischen habt ihr in Moers entdeckt?

w&k: Moers scheint generell einen sehr guten Nährboden für Nischen zu bieten. Vielleicht ist Moers selbst eine Nische, in der einfach vieles möglich ist, das woanders nicht möglich ist. Das behauptete zumindest der Mitgründer (oder Besetzer?) des Schlosstheaters Holk Freytag und erklärte uns im Interview, dass es auch mit dem Spezifikum des Niederrheins zu tun hätte. Auf jeden Fall ist uns an fast jeder Ecke ein etwas spezieller, schräger oder wie aus der Zeit gefallener Laden begegnet: die vielen Näh- und Handwerksutensilien-Geschäfte, die nachhaltige Goldschmiede Hynek, das anarchistische Zentrum Barrikade mit eigenem Verlag, der Getränkeautomat im Wallzentrum mit abgefahrenem Sortiment, aber auch die deutschtümelnden Entrümpelungsgeschäfte und die Dichte an Spielkasinos und Spelunken. Die Ambivalenz des Wortes Nische spiegelt sich in der Stadt wieder.
Obwohl Moers eine kleine Großstadt ist, haben wir hier auch die städtischen ArmutsNischen gefunden, aus denen es schwierig ist, herauszukommen und die die Stadtgesellschaft zu verdrängen versucht. Und überall begegneten uns Menschen, die wirklich seit langem schon ihre Überzeugung leben (wie Karl-Heinz Theussen vom SCI), ungewöhnliche Projekte hochziehen (die Pflanzenorchestranten der Band Recursion) oder ihre Faszination für andere Welten ausleben (wie die Mittelalter-Fans von der Rheinischen Rotte).

STM: Inwiefern hat sich das Thema der gesellschaftlichen Nischen durch die Pandemie verändert / verschärft?

w&k: In Hinblick auf die gesellschaftlichen Nischen gibt es seit dem Beginn des ersten Lockdowns zwei konträre Entwicklungen: Zunächst einmal entstand trotz des Rückzugs in die „eigene Haushalts-Nische“ wieder eine Art Mehrheitsgesellschaft, wie wir sie in unserer Inszenierung eigentlich schon fast abgeschrieben hatten: Die Mehrheit unterstützt die Pandemie-bedingte Politik der Regierung. Mehr Bürger halten den Staat wieder für wichtig und vertrauen auf ihn. Und überall erzählt man überrascht Geschichten der gegenseitigen, ganz analogen Unterstützung in Nachbarschaften über Alters- und Gruppenzugehörigkeit hinweg. Doch mit zunehmender Dauer der Pandemie gärt es eben andererseits auch in den Meinungs-Nischen, werden die Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Pandemie härter und die Gräben auch in Freundeskreisen und in Familien zur Zerreißprobe. Das Hörstück wird also mit jedem Tag des Lockdowns aktueller. Wenn Diskussionen um das Tragen von einer Maske im Bus scheinbar aus dem Nichts in wüste Beschimpfungen und verhärtete Fronten umschlägt vermuten wir, dass die Menschen sich wieder stärker in ihren „Echo-Kammern“ bewegen, in denen die eigenen Meinungen verstärkt und durch von Logarithmen ausgewählte Inhalte zementiert wird.

Autor:

Karin Dubbert aus Oberhausen

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